Saemtliche Dramen
sind Sie noch gar nicht, Mutter. Sie haben Besseres zu tun.
DIE MUTTER
Du weißt ja, ich mache Scherze. Warum auch nicht! Am Ende eines Lebens darf man sich auch mal gehenlassen. Man kann nicht immer so starr und steif sein wie du, Martha. Außerdem, auch zu deinem Alter passt das nicht. Ich kenne viele Mädchen, die sind im selben Jahr geboren wie du und haben nichts als Verrücktheiten im Kopf.
MARTHA
Verglichen mit unseren Verrücktheiten sind die harmlos, das wissen Sie.
DIE MUTTER
Lassen wir das.
MARTHA (langsam)
Es ist, als würden Sie vor gewissen Wörtern zurückschrecken.
DIE MUTTER
Was kümmert dich das, solange ich nicht vor den Taten zurückschrecke! Ach, egal! Ich würde dich gern manchmal lächeln sehen, mehr wollte ich nicht sagen.
MARTHA
Das kommt vor, wirklich.
DIE MUTTER
Ich habe es noch nie gesehen.
MARTHA
Weil ich auf meinem Zimmer lächle, wenn ich allein bin.
DIE MUTTER (mustert sie aufmerksam)
Wie hart dein Gesicht ist, Martha!
MARTHA (kommt näher; ruhig)
Sie lieben es also nicht?
DIE MUTTER (mustert sie weiter; nach einer Pause)
Ich glaube, doch. Doch.
MARTHA (erregt)
Ach, Mutter! Wenn wir viel Geld zusammenhaben und aus dieser trübseligen Gegend wegkommen, wenn wir dieses Gasthaus und diese verregnete Stadt hinter uns lassen, dieses Schattenland vergessen können – an dem Tag, wenn wir endlich am Meer sind, von dem ich so träume, an dem Tag werden Sie mich lächeln sehen! Aber man braucht viel Geld, wenn man frei am Meer leben will. Darum dürfen wir keine Angst vor Wörtern haben. Darum müssen wir uns um den Mann kümmern, der jetzt kommt. Wenn er reich genug ist, vielleicht fängt meine Freiheit dann mit ihm an. Hat er lange mit Ihnen gesprochen, Mutter?
DIE MUTTER
Nein. Zwei Sätze, mehr nicht.
MARTHA
Wie hat er geschaut, als er nach einem Zimmer gefragt hat?
DIE MUTTER
Ich weiß nicht. Ich sehe schlecht und habe nicht genau darauf geachtet. Aus Erfahrung weiß ich, dass man sie besser nicht ansieht. Was man nicht kennt, kann man leichter töten. (Kurze Pause.) Du kannst dich freuen, ich habe keine Angst mehr vor den Wörtern.
MARTHA
Das ist auch besser so. Ich mag keine Anspielungen. Ein Verbrechen ist ein Verbrechen, man muss wissen, was man will. Und Sie haben es vorhin gewusst, würde ich sagen, denn Sie haben daran gedacht, als Sie dem Reisenden geantwortet haben.
DIE MUTTER
Ich habe nicht daran gedacht. Ich habe rein aus Gewohnheit geantwortet.
MARTHA
Aus Gewohnheit? Dabei wissen Sie doch, die Gelegenheiten sind selten!
DIE MUTTER
Ja, sicher. Aber die Gewohnheit beginnt beim zweiten Verbrechen. Beim ersten beginnt nichts, da hört etwas auf. Die Gelegenheiten waren selten, aber sie haben sich auf viele Jahre verteilt, und die Gewohnheit ist durch die Erinnerung stärker geworden. Ja, die Gewohnheit hat mich ihm antworten lassen, sie hat dafür gesorgt, dass ich diesen Mann nicht angesehen habe, sie hat dafür gesorgt, dass er das Gesicht eines Opfers behalten hat.
MARTHA
Mutter, wir müssen ihn töten.
DIE MUTTER (leiser)
Natürlich müssen wir ihn töten.
MARTHA
Sie sagen das so eigenartig.
DIE MUTTER
Ich bin es müde, das stimmt, und mir wäre lieb, wenn dieser hier wenigstens der Letzte wäre. Töten ist schrecklich anstrengend. Ob ich selber am Meer sterbe oder hier in der Ebene, ist mir egal, aber ich möchte, dass wir gemeinsam fortgehen, wenn es getan ist.
MARTHA
Wir gehen fort, und das wird ein großer Moment! Nur Mut, Mutter, was ist schon dabei. Sie wissen doch, wir töten ihn nicht einmal wirklich. Er trinkt seinen Tee, dann schläft er ein, und während wir ihn zum Fluss bringen, lebt er ja noch. Es wird lange dauern, bis man ihn findet, an ein Wehr gepresst, gemeinsam mit anderen – die sind offenen Auges ins Wasser gegangen, er hat viel mehr Glück gehabt als sie. Damals, als wir zugesehen haben, wie das Wehr gereinigt wurde, haben Sie es selber gesagt: Unsere haben am wenigsten zu leiden, das Leben ist grausamer als wir. Nur Mut, Mutter, Sie werden Ihre Ruhe finden, und wir kommen endlich hier fort.
DIE MUTTER
Mut, ja. Manchmal bin ich wirklich froh bei dem Gedanken, dass unsere nie zu leiden haben. Es ist ja fast kein Verbrechen, eher ein Eingriff, wir stupsen ein unbekanntes Leben ein kleines bisschen an. Ja, und das Leben ist offenbar grausamer als wir. Vielleicht fällt es mir deswegen so schwer, mich schuldig zu fühlen.
(Der ALTE KNECHT tritt ein. Wortlos setzt er sich hinter den Tresen und bewegt sich
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