Saemtliche Dramen
Papier, das nach Luzernen duftende Fleisch bietet dem Menschen zugleich sein Blut, den Saft der Pflanzen und die Sonne dar. Leert die Becher! Leert die Becher! Leert den Becher der Jahreszeiten. Trinkt bis zum Vergessen, nichts wird passieren!
(Hurrarufe. Freudengeschrei. Trompeten. Musik. Überall auf dem Markt kleine Szenen.)
DER ERSTE BETTLER
Ein Almosen, guter Mann, ein Almosen, Großmütterchen!
DER ZWEITE BETTLER
Besser jetzt als nie!
DER DRITTE BETTLER
Ihr versteht schon, was wir meinen!
DER ERSTE BETTLER
Passiert ist natürlich nichts.
DER ZWEITE BETTLER
Aber vielleicht wird etwas passieren. (Er stiehlt einem Passanten die Uhr.)
DER DRITTE BETTLER
Gebt, gebt oft, zu eurem eigenen Besten. Doppelt hält besser!
(Im Fischladen.)
DER FISCHER
Eine Dorade, so frisch wie eine junge Blume! Die Blüte des Meeres! Und Sie wollen sich beschweren.
DIE ALTE
Deine Dorade schmeckt wie Seehund!
DER FISCHER
Seehund? Bis du alte Hexe hier hergekommen bist, war noch nie ein Seehund in meinem Laden.
DIE ALTE
Aah, du Betrüger! Achte meine weißen Haare!
DER FISCHER
Raus mit dir, alter Komet!
(Alles erstarrt und legt den Finger auf den Mund.)
(An Victorias Fenster. VICTORIA drinnen, DIEGO am Fenstergitter.)
DIEGO
Es ist so lange her!
VICTORIA
Du Verrückter, wir haben uns doch heute Morgen um elf noch gesehen!
DIEGO
Ja, aber dein Vater war dabei!
VICTORIA
Mein Vater hat ja gesagt. Wir waren sicher, er würde nein sagen.
DIEGO
Es war richtig, dass ich es offen ausgesprochen und ihm direkt in die Augen geblickt habe.
VICTORIA
Das war richtig. Während er nachdachte, habe ich die Augen geschlossen und zugehört, wie in mir ein ferner Galopp immer näher kam und lauter wurde, immer schneller, immer mehr Hufe, bis ich am ganzen Leib zitterte. Und dann hat mein Vater ja gesagt. Und ich habe die Augen aufgemacht. Es war der erste Morgen der Welt. In einer Ecke des Zimmers, in dem wir standen, sah ich die schwarzen Pferde der Liebe, immer noch zitternd, aber jetzt waren sie ruhig. Auf uns warteten sie.
DIEGO
Ich war weder blind noch taub. Aber ich habe nichts gehört als das leise Rauschen meines Blutes. Meine Freude war auf einmal frei von aller Ungeduld. Oh Stadt des Lichts, jetzt bist du in meine Hände gelegt, mein Leben lang, bis zu der Stunde, wo die Erde uns ruft. Morgen brechen wir gemeinsam auf, wir werden in ein und demselben Sattel sitzen.
VICTORIA
Ja, sprich unsere Sprache, auch wenn sie den anderen verrückt vorkommt. Morgen wirst du meinen Mund küssen. Ich schaue deinen an, und meine Wangen brennen. Liegt das vielleicht am Südwind?
DIEGO
Ja, es ist der Südwind, und er brennt auch mich. Wo ist der Brunnen, der mich heilt? (Er tritt näher, VICTORIA streckt die Arme durch die Gitterstäbe und fasst seine Schultern.)
VICTORIA
Ah! Ich liebe dich so, dass es weh tut! Komm noch näher.
DIEGO
Du bist so schön!
VICTORIA
Du bist so stark!
DIEGO
Womit wäschst du dein Gesicht, dass es so mandelweiß ist?
VICTORIA
Ich wasche es mit klarem Wasser, die Liebe tut ihre Anmut dazu!
DIEGO
Dein Haar ist kühl wie die Nacht!
VICTORIA
Weil ich jede Nacht an meinem Fenster auf dich warte.
DIEGO
Haben das klare Wasser und die kühle Nacht dir den Duft des Zitronenbaums mitgegeben?
VICTORIA
Nein, der Wind deiner Liebe hat mich an einem einzigen Tag ganz mit Blüten bedeckt!
DIEGO
Die Blüten werden verblühen!
VICTORIA
Die Früchte werden auf dich warten!
DIEGO
Der Winter wird kommen!
VICTORIA
Aber mit dir. Weißt du noch, was du mir beim ersten Mal vorgesungen hast? Es stimmt doch immer noch?
DIEGO
Wenn nach hundert Jahren tief im Grabe
Die Erde fragt und zu mir spricht
Ob ich dich wohl vergessen habe
So antwort’ ich: Noch lange nicht!
(Sie schweigt.)
Du sagst gar nichts?
VICTORIA
Das Glück schnürt mir die Kehle zu.
(Im Zelt des Astrologen.)
DER ASTROLOGE (zu einer FRAU )
Die Sonne, meine Hübsche, geht bei deiner Geburt durch das Zeichen der Waage, also dürfen wir dich als Venuskind betrachten, auch weil du Stier als Aszendent hast, der, wie jeder weiß, von Venus beherrscht wird. Du bist also gefühlvoll, zärtlich und von angenehmem Wesen. Darüber darfst du dich freuen, obgleich der Stier auch zu Ehelosigkeit neigt, sodass diese wertvollen Anlagen ungenutzt bleiben. Übrigens sehe ich hier auch eine Konjunktion von Venus und Saturn, das ist ungünstig für Ehe und Kinder. Auch bedeutet diese Konjunktion abseitige Neigungen und eine Anfälligkeit
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