Saemtliche Dramen
Meer!
EINE STIMME
Haltet den Dieb! Haltet den Dieb! Er hat meine bestickte Hochzeitsdecke gestohlen!
(Sie verfolgen. Sie fangen. Sie schlagen. Das vierte Tor fällt zu.)
EINE STIMME
Versteck das, hörst du, versteck unsere Vorräte!
EINE STIMME
Ich habe nichts für den Weg, gibst du mir ein Stück Brot, Bruder? Ich gebe dir meine Gitarre mit den Perlmuttverzierungen.
EINE STIMME
Das Brot ist für meine Kinder, nicht für die, die sich meine Brüder nennen. Es gibt verschiedene Verwandtschaftsgrade.
EINE STIMME
Ein Brot, mein ganzes Geld für ein Brot!
(Das fünfte Tor fällt zu.)
DER CHOR
Schnell! Nur noch ein Tor ist offen! Die Geißel ist schneller als wir. Sie hasst das Meer und will nicht, dass wir dorthin gelangen. Die Nächte sind ruhig, die Sterne ziehen überm Mast einher. Was könnte die Pest hier ausrichten? Sie will uns knechten, sie liebt uns auf ihre Art. Sie will, dass wir so glücklich sind, wie sie es für richtig hält, nicht wie wir es wollen. Das sind gezwungene Freuden, ein kaltes Leben, ewiges Glück. Alles erstarrt, wir spüren nicht mehr den vertraut kühlen Wind auf unseren Lippen.
DER ARME
Priester, verlass mich nicht, ich bin der Arme, der dir anbefohlen ist! (Der PRIESTER flieht.) Er flieht! Er flieht! Behalte mich bei dir! Wenn ich dich verliere, habe ich alles verloren! (Der PRIESTER entkommt ihm. Der ARME fällt schreiend zu Boden.) Ihr Christen Spaniens, ihr seid verlassen!
DER FÜNFTE BOTE (sehr deutlich sprechend)
Wir kommen zum Schluss. (Die PEST und die SEKRETÄRIN stehen beim BÜRGERMEISTER , nicken lächelnd und reichen einander die Hand.) Um jede Ansteckung durch die Luft zu vermeiden und da sogar Worte sie transportieren können, werden alle Bürger angewiesen, stets einen mit Essig getränkten Wattebausch im Mund zu tragen, was sie vor der Krankheit bewahren und sie zugleich zu Diskretion und Schweigen anhalten wird.
(Alle stopfen sich ein Taschentuch in den Mund, die Zahl der Stimmen verringert sich ebenso wie die Lautstärke des Orchesters. Der mit mehreren Stimmen begonnene CHOR wird zu einer einzelnen Stimme, schließlich zur Pantomime, die unter völligem Schweigen stattfindet, die Wangen der Mitwirkenden sind gebläht, die Münder verschlossen.
Das letzte Tor fällt krachend zu.)
DER CHOR
Weh uns! Weh uns! Wir sind allein mit der Pest! Das letzte Tor ist zu! Wir hören nichts mehr. Das Meer ist jetzt zu weit weg. Wir leben im Schmerz und drehen uns in dieser allzu engen Stadt im Kreis, in der es keine Bäume gibt und kein Wasser, sie liegt hinter hohen Toren verrammelt, gekrönt von schreienden Mengen, Cádiz ist nichts mehr als eine schwarze und rote Arena, in der rituelle Morde begangen werden. Brüder, dies Elend ist größer als unsere Schuld, dieses Gefängnis haben wir nicht verdient! Unser Herz war nicht unschuldig, aber wir liebten die Welt und ihre Sommer: Das hätte uns retten müssen! Die Winde sind verstummt, und der Himmel ist leer! Wir werden lange schweigen. Doch bevor der Knebel des Terrors unsere Münder verschließt, werden wir noch ein letztes Mal in der Wüste schreien.
(Ächzen und Stille. Vom Orchester sind nur noch die Glocken übrig. Das Brummen des Kometen setzt leise wieder ein. Im Gouverneurspalast erscheinen wieder die PEST und die SEKRETÄRIN . Die SEKRETÄRIN tritt vor und streicht bei jedem Schritt einen Namen aus, wobei das Schlagzeug sie begleitet. NADA lacht spöttisch, und der erste Totenkarren quietscht vorüber.
Die PEST stellt sich oben auf dem Bühnenbild auf und gibt ein Zeichen. Alles hält inne, Bewegungen und Geräusche.
Die PEST spricht.)
DIE PEST
Ja, ich herrsche, das ist eine Tatsache, mithin ein Recht. Aber ein Recht, das außer Diskussion steht: Ihr müsst euch anpassen.
Und gebt euch keinen Illusionen hin: Ich herrsche nach meinen eigenen Regeln, es wäre zutreffender zu sagen, ich funktioniere. Ihr Spanier seid ein wenig schwärmerisch veranlagt, euch wäre es lieber, ich würde als schwarzer König oder Rieseninsekt auftreten. Ihr braucht es pathetisch, das ist bekannt! Aber nichts da. Ich habe kein Zepter, ich komme in Gestalt eines Unteroffiziers. Das ist meine Art, euch herabzusetzen, denn es ist gut, euch herabzusetzen: Ihr müsst alles erst noch lernen. Euer König hat schwarze Fingernägel und eine schlichte Uniform. Er thront nicht, er hält eine Sitzung ab. Sein Palast ist eine Kaserne, sein Jagdzelt ein Gericht. Hiermit wird der Belagerungszustand erklärt.
Darum, beachtet das, darum
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