Sämtliche Werke
wird. Jeder Verbrecher ist dort ein ungezogenes Kind, das der Vater zu bessern sucht, und zwar durch den Bambus. Diese patriarchalische, gemütliche Ansicht hat in neuerer Zeit ganz besonders in Preußen ihre Verehrer gefunden, die sie auch in die Gesetzgebung einzuführen suchten. Bei solcher chinesischen Bambustheorie drängt sich uns zunächst das Bedenken auf, daß alle Verbesserung nichts helfen dürfte, wenn nicht vorher die Verbesserer gebessert würden. In China scheint das Staatsoberhaupt dergleichen Einrede dunkel zu fühlen, und wenn im Reiche der Mitte irgendein ungeheures Verbrechen begangen wird, legt sich der Kaiser, der Himmelssohn, selber eine harte Buße auf, wähnend, daß er selber durch irgendeine Sünde ein solches Landesunglück verschuldet haben müsse. Wir würden es mit großem Vergnügen sehen, wenn unser heimischer Pietismus auf solche fromme Irrtümer geriete und sich zum Heil des Staats weidlich kasteien wollte. In China gehört es zur Konsequenz der patriarchalischen Ansicht, daß es neben den Bestrafungen auch gesetzliche Belohnungen gibt, daß man für gute Handlungen irgendeinen Ehrenknopf mit oder ohne Schleife bekömmt, wie man für schlechte Handlungen die gehörige Tracht Schläge empfängt, so daß, um mich philosophisch auszudrücken, der Bambus die Belohnung des Lasters und der Orden die Strafe der Tugend ist. Die Partisane der körperlichen Züchtigung haben jüngst in den Rheinprovinzen einen Widerstand gefunden, der aus einer Empfindungsweise her, vorgegangen, die nicht sehr original ist und leider als ein Überbleibsel der französischen Fremdherrschaft betrachtet werden dürfte.
Wir haben noch eine vierte große Straftheorie, die wir kaum noch eine solche nennen können, da der Begriff »Strafe« hier ganz verschwindet. Man nennt sie die Präventionstheorie, weil hier die Verhütung der Verbrechen das leitende Prinzip ist. Die eifrigsten Vertreter dieser Ansicht sind zunächst die Radikalen aller sozialistischen Schulen. Als der Entschiedenste muß hier der Engländer Owen genannt werden, der kein Recht der Bestrafung anerkennt, solange die Ursache der Verbrechen, die sozialen Übel, nicht fortgeräumt worden. So denken auch die Kommunisten, die materialistischen ebensowohl wie die spiritualistischen, welche letztern ihre Abneigung gegen das herkömmliche Kriminalrecht, das sie das alttestamentalische Rachegesetz nennen, durch evangelische Texte beschönigen. Die Fourieristen dürfen ebenfalls konsequenterweise kein Strafrecht anerkennen, da nach ihrer Lehre die Verbrechen nur durch ausgeartete Leidenschaften entstehen und ihr Staat sich eben die Aufgabe gestellt hat, durch eine neue Organisation der menschlichen Leidenschaften ihre Ausartung zu verhüten. Die Saint-Simonisten hatten freilich weit höhere Begriffe von der Unendlichkeit des menschlichen Gemütes, als daß sie sich auf einen geregelten und numerierten Schematismus der Leidenschaften, wie wir ihn bei Fourier finden, eingelassen hätten. Jedoch auch sie hielten das Verbrechen nicht bloß für ein Resultat gesellschaftlicher Mißstände, sondern auch einer fehlerhaften Erziehung, und von den besser geleiteten, wohlerzogenen Leidenschaften erwarteten sie eine vollständige Regeneration, das Weltreich der Liebe, wo alle Traditionen der Sünde in Vergessenheit geraten und die Idee eines Strafrechts als eine Blasphemie erscheinen würde.
Minder schwärmerische und sogar sehr praktische Naturen haben sich ebenfalls für die Präventionstheorie entschieden, insofern sie von der Volkserziehung die Abnahme der Verbrechen erwarteten. Sie haben noch ganz besondere staatsökonomische Vorschläge gemacht, die dahin zielen, den Verbrecher vor seinen eigenen bösen Anfechtungen zu schützen, in derselben Weise, wie die Gesellschaft vor der Untat selbst hinreichend bewahrt wird. Hier stehen wir auf dem positiven Boden der Präventionslehre. Der Staat wird hier gleichsam eine große Polizeianstalt, im edelsten und würdigsten Sinne, wo dem bösen Gelüste jeder Antrieb entzogen wird, wo man nicht durch Ausstellungen von Leckerbissen und Putzwaren einen armen Schlucker zum Diebstahl und die arme Gefallsucht zur Prostitution reizt, wo keine diebischen Emporkömmlinge, keine Robert Macaires der hohen Finanz, keine Menschenfleischhändler, keine glücklichen Halunken ihren unverschämten Luxus öffentlich zur Schau geben dürfen, kurz, wo das demoralisierende böse Beispiel unterdrückt wird. Kommen trotz aller
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