Sämtliche Werke
Streckfuß!
Ja, es ist Frühling, und ich kann endlich die Unterjacke ausziehn. Die kleinen Jungen haben sogar ihre Röckchen ausgezogen und springen in Hemdeärmeln um den großen Baum, der neben der kleinen Dorfkirche steht und als Glockenturm dient. Jetzt ist der Baum ganz mit Blüten bedeckt und sieht aus wie ein alter gepuderter Großvater, der, ruhig und lächelnd, in der Mitte der blonden Enkel steht, die lustig um ihn herumtanzen. Manchmal überschüttet er sie neckend mit seinen weißen Flocken. Aber dann jauchzen die Knaben um so brausender. Streng ist es untersagt, bei Prügelstrafe untersagt, an dem Glockenstrang zu ziehen. Doch der große Junge, der den übrigen ein gutes Beispiel geben sollte, kann dem Gelüste nicht widerstehen, er zieht heimlich an dem verbotenen Strang, und dann ertönt die Glocke wie großväterliches Mahnen.
Späterhin, im Sommer, wenn der Baum in ganzer Grüne prangt und das Laubwerk die Glocke dicht umhüllt, hat ihr Ton etwas Geheimnisvolles, es sind wunderbar gedämpfte Laute, und sobald sie erklingen, verstummen plötzlich die geschwätzigen Vögel, die sich auf den Zweigen wiegten, und fliegen erschrocken davon.
Im Herbste ist der Ton der Glocke noch viel ernster, noch viel schauerlicher, und man glaubt eine Geisterstimme zu vernehmen. Besonders wenn jemand begraben wird, hat das Glockengeläute einen unaussprechlich wehmütigen Nachhall; bei jedem Glockenschlag fallen dann einige gelbe kranke Blätter vom Baume herab, und dieser tönende Blätterfall, dieses klingende Sinnbild des Sterbens, erfüllte mich einst mit so übermächtiger Trauer, daß ich wie ein Kind weinte. Das geschah vorig Jahr, als die Margot ihren Mann begrub…
Aber jetzt ist ein schönes Frühlingswetter, die Sonne lacht, die Kinder jauchzen, sogar lauter, als eben nötig wäre, und hier, in dem kleinen Dorfhäuschen, wo ich schon vorig Jahr die schönsten Monate zubrachte, will ich Ihnen über das französische Theater eine Reihe Briefe schreiben und dabei, Ihrem Wunsche gemäß, auch die Bezüge auf die heimische Bühne nicht außer Augen lassen. Letzteres hat seine Schwierigkeit, da die Erinnerungen der deutschen Bretterwelt täglich mehr und mehr in meinem Gedächtnisse erbleichen. Von Theaterstücken, die in der letzten Zeit geschrieben worden, ist mir nichts zu Gesicht gekommen als zwei Tragödien von Immermann, »Merlin« und »Peter der Große«, welche gewiß beide, der »Merlin« wegen der Poesie, der »Peter« wegen der Politik, nicht aufgeführt werden konnten… Und denken Sie sich meine Miene: in dem Pakete, welches diese Schöpfungen eines lieben großen Dichters enthielt, fand ich einige Bände beigepackt, welche »Dramatische Werke von Ernst Raupach« betitelt waren!
Von Angesicht kannte ich ihn zwar, aber gelesen hatte ich noch nie etwas von diesem Schoßkinde der deutschen Theaterdirektionen. Einige seiner Stücke hatte ich nur durch die Bühne kennengelernt, und da weiß man nicht genau, ob der Autor von dem Schauspieler oder dieser von jenem hingerichtet wird. Die Gunst des Schicksals wollte es nun, daß ich in fremdem Lande einige Lustspiele des Doktors Ernst Raupach mit Muße lesen konnte. Nicht ohne Anstrengung konnte ich mich bis zu den letzten Akten durcharbeiten. Die schlechten Witze möchte ich ihm alle hingehen lassen, und am Ende will er damit nur dem Publikum schmeicheln; denn der arme Hecht im Parterre wird zu sich selber sagen: ›Solche Witze kann ich auch machen!‹, und für dieses befriedigte Selbstgefühl wird er dem Autor Dank wissen. Unerträglich war mir aber der Stil. Ich bin so sehr verwöhnt, der gute Ton der Unterhaltung, die wahre, leichte Gesellschaftssprache ist mir durch meinen langen Aufenthalt in Frankreich so sehr zum Bedürfnis geworden, daß ich bei der Lektüre der Raupachschen Lustspiele ein sonderbares Übelbefinden verspürte. Dieser Stil hat auch so etwas Einsames, Abgesondertes, Ungeselliges, das die Brust beklemmt. Die Konversation in diesen Lustspielen ist erlogen, sie ist immer nur bauchrednerisch vielstimmiger Monolog, ein ödes Ablagern von lauter hagestolzen Gedanken, Gedanken, die allein schlafen, sich selbst des Morgens ihren Kaffee kochen, sich selbst rasieren, allein spazierengehn vors Brandenburger Tor und für sich selbst Blumen pflücken. Wo er Frauenzimmer sprechen läßt, tragen die Redensarten unter der weißen Musselinrobe eine schmierige Hose von Gesundheitsflanell und riechen nach Tabak und Juchten.
Aber unter den Blinden
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