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Sämtliche Werke

Titel: Sämtliche Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Heine
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der physische, und gewährt man mir z.B. die Wahl zwischen einem bösen Gewissen und einem bösen Zahn, so wähle ich ersteres. Ach, es ist nichts Gräßlicheres als Zahnschmerz! Das fühlte ich in Potsdam, ich vergaß alle meine Seelenleiden und beschloß, nach Berlin zu reisen, um mir dort den kranken Zahn ausziehen zu lassen. Welche schauerliche, grauenhafte Operation! Sie hat so etwas vom Geköpftwerden. Man muß sich auch dabei auf einen Stuhl setzen und ganz stillhalten und ruhig den schrecklichen Ruck erwarten! Mein Haar sträubt sich, wenn ich nur daran denke. Aber die Vorsehung, in ihrer Weisheit, hat alles zu unserem Besten eingerichtet, und sogar die Schmerzen des Menschen dienen am Ende nur zu seinem Heile. Freilich, Zahnschmerzen sind fürchterlich, unerträglich; doch die wohltätig berechnende Vorsehung hat unseren Zahnschmerzen eben diesen fürchterlich unerträglichen Charakter verliehen, damit wir aus Verzweiflung endlich zum Zahnarzt laufen und uns den Zahn ausreißen lassen. Wahrlich, niemand würde sich zu dieser Operation oder vielmehr Exekution entschließen, wenn der Zahnschmerz nur im mindesten erträglich wäre!
    Sie können sich nicht vorstellen, wie zagen und bangen Sinnes ich während der dreistündigen Fahrt im Postwagen saß. Als ich zu Berlin anlangte, war ich wie gebrochen, und da man in solchen Momenten gar keinen Sinn für Geld hat, gab ich dem Postillion zwölf gute Groschen Trinkgeld. Der Kerl sah mich mit sonderbar unschlüssigem Gesichte an; denn nach dem neuen Naglerschen Postreglement war es den Postillionen streng untersagt, Trinkgelder anzunehmen. Er hielt lange das Zwölfgroschenstück, als wenn er es wöge, in der Hand, und ehe er es einsteckte, sprach er mit wehmütiger Stimme: »Seit zwanzig Jahren bin ich Postillion und bin ganz an Trinkgelder gewöhnt, und jetzt auf einmal wird uns von dem Herrn Oberpostdirektor bei harter Strafe verboten, etwas von den Passagieren anzunehmen; aber das ist ein unmenschliches Gesetz, kein Mensch kann ein Trinkgeld abweisen, das ist gegen die Natur!« Ich drückte dem ehrlichen Mann die Hand und seufzte. Seufzend gelangte ich endlich in den Gasthof, und als ich mich dort gleich nach einem guten Zahnarzt erkundigte, sprach der Wirt mit großer Freude: »Das ist ja ganz vortrefflich, soeben ist ein berühmter Zahnarzt von St. Petersburg bei mir eingekehrt, und wenn Sie an der Table d’hôte speisen, werden Sie ihn sehen.« Ja, dachte ich, ich will erst meine Henkersmahlzeit halten, ehe ich mich aufs Armesünderstühlchen setze. Aber bei Tische fehlte mir doch alle Lust zum Essen. Ich hatte Hunger, aber keinen Appetit. Trotz meines Leichtsinns konnte ich mir doch die Schrecknisse, die in der nächsten Stunde meiner harrten, nicht aus dem Sinne schlagen. Sogar mein Lieblingsgericht, Hammelfleisch mit Teltower Rübchen, widerstand mir. Unwillkürlich suchten meine Augen den schrecklichen Mann, den Zahnhenker aus St. Petersburg, und mit dem Instinkte der Angst hatte ich ihn bald unter den übrigen Gästen herausgefunden. Er saß fern von mir, am Ende der Tafel, hatte ein verzwicktes und verkniffenes Gesicht, ein Gesicht wie eine Zange, womit man Zähne auszieht. Es war ein fataler Kauz, in einem aschgrauen Rock mit blitzenden Stahlknöpfen. Ich wagte kaum, ihm ins Gesicht zu sehen, und als er eine Gabel in die Hand nahm, erschrak ich, als nahe er schon meinen Kinnbacken mit dem Brecheisen. Mit bebender Angst wandte ich mich weg von seinem Anblick und hätte mir auch gern die Ohren verstopft, um nur nicht den Ton seiner Stimme zu vernehmen. An diesem Tone merkte ich, daß er einer jener Leute war, die inwendig, im Leibe, grau angestrichen sind und hölzerne Gedärme haben. Er sprach von Rußland, wo er lange Zeit verweilt, wo aber seine Kunst keinen hinreichenden Spielraum gefunden. Er sprach mit jener stillen, impertinenten Zurückhaltung, die noch unerträglicher ist als die vollauteste Aufschneiderei. Jedesmal, wenn er sprach, ward mir flau zumute und zitterte meine Seele. Aus Verzweiflung warf ich mich in ein Gespräch mit meinem Tischnachbar, und indem ich dem Schrecklichen recht ängstlich den Rücken zukehrte, sprach ich auch so selbstbetäubend laut, daß ich die Stimme desselben endlich nicht mehr hörte. Mein Nachbar war ein liebenswürdiger Mann, von dem vornehmsten Anstand, von den feinsten Manieren, und seine wohlwollende Unterhaltung linderte die peinliche Stimmung, worin ich mich befand. Er war die Bescheidenheit selbst. Die

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