Saemtliche Werke von Jean Paul
und gesiegelt hatte – oder solang’ er spazieren ging – oder während der sanften Nerven-Herabschraubung nach einem Weinrausch. Auch war ihm wenig daran gelegen, von denen geachtet zu werden, die er selber nicht achtete; mitten unter großen philosophischen, republikanischen Ideen oder Idealen wurden ihm die Kleinigkeiten der Gegenwart unsichtbar und verächtlich, jetzt zumal, wo die künftige Welt oder die künftigen Welten die dünne verfinsterte, auf der er nach jenen hinsah, wie man durch das geschwärzte Sehrohr keinen Gegenstand erblickt als die Sonne. So brachte er z. B. fünf groteske Minuten bei der Residentin damit zu, daß er – da den eigentlichen Körper der Seele nur Gehirn und Rückenmark und Nerven ausmachen – den vernünftigsten Hofdamen und den schönsten Hofherrn die Haut abschund in Gedanken, ihnen ferner die Knochen herauszog und das wenige Fleisch und Gedärm, was sie umlag, wegdachte, bis nichts mehr auf der Ottomane saß als ein Mark-Schwanz mit einem Gehirn-Knauf oben dran. Darauf ließ er diese umgekehrten Klöppel oder aufgerichteten Schwänze gegeneinander anlaufen und agieren und Fleuretten sagen und lachte innerlich über die gescheitesten Leute von Geburt, die er selber skalpiert und abgeschuppet hatte. Das nennen viele das philosophische Pasquill.
Aus dem neuen Schloß eilt’ er ins alte zu Gustav, der ihn zu fliehen schien. Aber auf welche Art er mit Gustav schon längst bekannt geworden, wie er ihm den ersten Brief geben können, warum er wie Gustav (noch jetzt) sich an einen unbekannten Ort regelmäßig verfügte, warum er von ihm geflohen wurde, und was sie miteinander im alten Schlosse für ein dreistündiges Gespräch gehalten, das sich mit der wärmsten Liebe in beiden Herzen schloß – darüber deckt sich noch ein langer Schleier, den meine Mutmaßungen nicht aufheben können; denn ich habe allerdings verschiedene, aber sie klingen so außerordentlich, daß ichs nicht wage, sie dem Publikum eher vorzulegen, als bis ich sie besser rechtfertigen kann. Jede Ader, jeder Gedanke und Herz und Auge wurden in Gustav weiter und vergrößerten sich für eine neue Welt, da er mit dem genialen Menschen sprach. O was sind die Stunden der seelenverwandtesten Lektüre, selbst die Stunden der einsamen Emporhebung, gegen eine Stunde, wo eine große Seele lebendig auf dich wirkt und durch ihre Gegenwart deine Seele und deine Ideale verdoppelt und deine Gedanken verkörpert? –
Gustav nahm sich vor, sich aus dem Schlosse zu Ottomar zu begeben, um es zu vergessen, wer noch weiter darin fehle. Es war ein stummer ausgewölkter Abend, ein Schatte nicht des schon weit weggezognen Sommers, sondern des Nachsommers, als Gustav aufbrach, nachdem er vergeblich auf die Rückkehr und Gesellschaft des Doktors gewartet hatte. In der leeren Luft, durch die keine gefiederte Töne, keine klopfende Herzen mehr flogen, zeigte sich nichts Lebendiges als die ewige Sonne, die kein Erdenherbst bleicht und fället und die ewig offen unsern Erdball immerfort ansieht, indes unter ihr tausend Augen sich öffnen und tausend sich schließen. An einem solchen Abend springt der Verband von alten Wunden auf, die wir in uns tragen. Gustav kam still im Dorfe an; am Eingange des Gartens, der das Ottomarsche Schloß halb umlief, stand ein Knabe, der die erhabene Melodie eines erhabenen Lieds auf einer Drehorgel dem Gehör eines Kanarienvogels vordrehte, der sie singen lernen sollte. »Ich krieg’ schon viel, wenn ers pfeifen kann«, sagte der winzige Organist. An einen Baum gelehnt stand Ottomar der weiten Abendröte und diesen Abendtönen gegenüber; die Sonne außer ihm ging, hinter einer bleifarbenen großen Wolke in ihm, unter. Gustav mußte, eh’ er ihn erreichte, vor einer dichten Nische und einem alten Gärtner darin vorbei, an welchem ihn zweierlei wunderte, daß er ihm erstlich mit keinem Worte für seinen Gutenabend dankte, und zweitens, daß so ein alter vernünftiger Mann ein Kindergärtchen auf dem Schoße hatte und besah. Durch die Laube nahm er an einer Sonnenuhr eine Erhöhung wie ein Kindergrab und einen Regenbogen von Blumen wahr, der es umblühte und überlaubte; auf der Erhöhung lagen die Kleider eines Kindes so geordnet, als wär’ etwas darin und hätte sie an. Ottomar empfing ihn mit einer Sanftheit, die man nur in heftigen Charakteren in so unwiderstehlichem Grade findet, und sagte mit leiser Stimme: »er feiere den Todestag aller Jahrszeiten, und heute wäre des Nachsommers seiner.« Sie
Weitere Kostenlose Bücher