Saemtliche Werke von Jean Paul
sahen wir, wie Württemberg in die deutsche Geistesentwicklung einschwenkte. Es war nicht die einzige Landschaft, die zu geistigem Selbstbewußtsein erwachte. Wenige Wochen nach dem Abschluß des Hubertusburger Friedens wurde in Wunsiedel im Fürstentum Baireuth Jean Paul geboren und in ihm der Dichter, der die Probleme seiner Zeit und eines aus unberührter Tiefe aufsteigenden neuen Volkstums am treuesten austragen sollte.
Wir zogen die russische Literatur als Vergleich heran. Wie unter der Berührung der westlichen Kultur mit der russischen Erde die langen Romanreihen Dostojewskis und Tolstois längs des breiten Saums dieser Berührung aufrauschten, so begleiten Jean Pauls fast unübersehbare Werke sein Hineinwachsen in die geistigen Strömungen der Zeit. Aus bisher unberührten Schichten aufsteigend, einzig von der Tradition der lutherischen Befreiungstat getragen, riß er das deutsche Leben an entscheidender Wende in sich hinein und stellte es als Gestalt wieder heraus. Die Aufklärung, die großen Ostpreußen, das Genietum, Goethe, Schiller, Fichte und die Romantik, mit allen hat er sich auseinandergesetzt und aus der Berührung mit ihnen die Verwirklichung des deutschen Menschen gewonnen. Den Kulturoptimismus der Aufklärung vermochte er als der einzige unter den Großen der Zeit mit dem Nationalbewußtsein der Romantik, den seelischen Überschwang der Genieperiode mit der Hingebung an die Wirklichkeit zu versöhnen. Weil er in die wechselnden Ströme des Geistes immer sein Dasein hineintrug, das Haften an den Urtatsachen des Lebens.
»Wer mich rein und recht beurteilen will,« schrieb Jean Paul in den Vorarbeiten zu seiner Selbstbiographie, »muß mich in meinem Ganzen nehmen.« Und rührte damit an die Hauptschwierigkeit, die sich seiner Würdigung in einem Zeitalter des Spezialistentums entgegenstellen mußte. Das 19. Jahrhundert hat nur die Schätze der Vergangenheit zu bergen verstanden, die einer Teiluntersuchung sich erschlossen, die durch den Buchstaben mitgeteilt werden konnten. Es sah die intellektuellen Probleme, aber die Totalität eines Lebens und das bloße Dasein entzog sich seinem Zugriff. Weder erkannte es die Verschmelzung von Jean Pauls titanischer Hingerissenheit mit den wirklichen Lebensströmen der Zeit, noch, daß er seine Idyllen als den Schacht des unversiegbaren Lebens in ein umfassendes Weltbild hineinstellte. Man glaubte ihn als formlosen Stürmer und Dränger abtun zu können oder ihn zum Idylliker beschneiden zu müssen. Beides war er nicht, weil er beides war.
Wir haben die geistige Konstellation bei seiner Geburt, wenige Wochen nach dem Hubertusburger Frieden, zu skizzieren versucht: Der Norden Deutschlands war von der europäischen Aufklärungswelle durchflutet. Im Osten bereitete sich schon die geschichtlich-heroische Weltauffassung des deutschen Idealismus vor. Die abseits liegenden Länder des süd- und mitteldeutschen Protestantismus, bis dahin vom Osnabrücker Frieden beschattet, unter dem Druck kleiner Despoten seufzend, hoben sich, berührt von der Aufklärung in die deutsche Entwicklung und das deutsche Geistesleben hinein. Unter dieser Konstellation wurde Johann Paul Friedrich Richter zu Wunsiedel im Fichtelgebirge als Sohn des Tertius (dritter Lehrer) und Organisten Johann Christian Richter an dem verheißungsvollen Datum des 21. März 1763 geboren.
Jean Pauls Heimat ist einer der düstersten und entlegensten Landstriche Deutschlands. Ein kärglicher Boden ernährt mühsam seine spärlichen Bewohner. Hochgelegen, am Fuß scharf abfallender Berge, heftigen Winden ausgesetzt, treten die Winter hier mit verheerender Strenge auf. Frühlings- und Sommersehnsucht zieht sich durch Jean Pauls Werk hindurch. Von seinen in bunter Fülle schwellenden Landschaften bot ihm seine Heimat den Zauber der Farben und die phantastischen Linien. Wenn die dunklen Fichtenwälder auf den Säumen des Gebirges im Sonnenuntergang erglühten, die Nebelmeere über den sumpfigen Tälern standen, dann durfte er in der Tat die mythische Landschaft erschauen, in der seine Gestalten leben. Immer spielen seine Romane am Fuß der Gebirge, die seine Kindheit und Jugend umstanden, und wenn er sie in ferne Gegenden verlegt, so allenfalls an den Saum der Alpen, weil Gottes Schöpferhand ihm im Zug der Berge am sinnfälligsten sich darstellte und er in Gottes Schöpfung seine Gestalten eingebettet wissen wollte.
Politisch gehörte Wunsiedel – Jean Paul nennt das Städtchen in richtigerer Fassung
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