Saemtliche Werke von Jean Paul
ausnimmt. Das erhabene Pathos eines Stefan George, die Zartheit eines Rilke, die Weltweite eines Dostojewski, die Empörung eines Zola, die Eindringlichkeit eines Ibsen und was alles man anführen wollte, alles ist in Jean Paul bereits vorhanden. Sein Werk ist nicht, auch sein erster Roman nicht, nur das Werk eines beliebig begabten Dichters. In ihm rang eine Welt, eine Menschheit, ein aus der Tiefe steigendes Volk sich zum Ausdruck durch. Die Welle der Aufklärung hatte bisher unberührtes Neuland berührt und aus dem Schlummer gerissen. Jetzt stieg es wie eine neue Rasse fast aus dem Boden, stellte selbst unüberschaubare Welt aus sich heraus mit allen Gründen und Sonnen einer Welt. Neue und unerhörte Kontingente tauchten in das Licht der Dichtung. Mühelos wurde die Erde in ihrer Achse bewegt. Wenn Gustav aus seiner achtjährigen Finsternis heraustritt und die Erde für den Himmel ansieht, so wurde hier in der Tat durch einen Dichter die Erde unter neue Perspektiven gestellt. Wenn Kopernikus der Erde ihre Stellung im unendlichen Raum angewiesen hatte, hier wurde diese Stellung inmitten des grenzenlosen Luftozeans aus Finsternis zum erstenmal mit dem Gefühl ergriffen, alles Irdische ins Kosmische gewandt. Und wie ist diese Weltschau, die eigentlich erst in Jean Paul seelischer Allgemeinbesitz wurde, ins menschliche Dasein projiziert! »Sie standen auf zwei entfernten Himmeln, zu einander über den Abgrund herüber gelehnt und einander auf dem zitternden Boden umklammernd, um nicht loslassend zwischen die Himmel hinunter zu stürzen«, schreibt er von den Liebenden des ersten Kusses. Genau so küssen sich Liebende zum erstenmal. Sie stehen wirklich in Einsamkeit auf zwei entfernten Himmeln, jeder für sich mit der ungeheuren Einmaligkeit seines Erlebens, und sie halten sich, um nicht hinunterzustürzen von ihren gleitenden Sternen. Auf jeder Seite fast überrascht uns ein solches Bild von nie dagewesener Sichtbarkeit. Hier erst begreift man den Sinn jenes jahrelangen Ringens mit der Sprache, jener »Kettengebirge der Arbeit«, die das »Mitwörterbuch« aufwarf.
Und dann die unerhörte Ehrlichkeit der Darstellung! Hier war epischer Fluß in stetem Dahinströmen, losgelöst von den Hemmungen des Innern. Aber immer »erzählt«, vorgetragen von einem, der ständig Rechenschaft davon gibt, wie sich die Bilder und Gestalten vor seinem Auge entwickeln. Keine verlogene Unterstellung, aber auch keine vorgetäuschte Objektivität. Ein fortwährendes Leben mit den Gestalten des Romans, ein ewiges Sichauseinandersetzen mit ihnen, ein fast schamloses Herausstellen der eigenen Person, um das ganze Herz ausgießen zu dürfen.
Die Welt, die vor uns ausgebreitet wird, ist im tiefsten Sinne Heimat. Jean Paul wußte genau, weshalb er den heimatlichen Boden nie auf längere Zeit verließ. Keine Gegend der Erde kann derart in ihrer Totalität ergriffen werden wie das Land der eigenen Kindheit. Hier konnte er Stände und Menschen durcheinandermischen und alle an sicherem Bande führen, von dem Fürsten bis zum Schulmeisterlein Wuz, von dem trefflichen Rittmeister von Falkenberg (»Behalte deinen gesunden Nord-Ost-Atem!« schreibt er von ihm) bis zu dem phantastischen »Einbein«. Stadt und Land, Schloß und Hütte erschließen ihre Geheimnisse und liegen alle mit ihren Bergen und Tälern auf der einen Ebene der Dichtung.
Aus welchen Elementen der Roman sich kristallisierte, sahen wir bereits. Hervorzuheben ist noch die doppelt gebrochene Gestalt Hermanns. Sein durch Armut und Krankheit verhindertes Wirken haben wir in Ottomar wiedererkannt. Aber auch an den Dr. Fenk gab er Wichtigstes ab. Dieser Mann des leichtbeschwingten Humors, den das Leid nicht bändigt, der aus Zartheit immer zum drastischen Zynismus neigt, der edelste Freund und immer Retter in der Not, – er sollte sich bald zu einer noch größeren Gestalt auswachsen: zu Leibgeber im »Siebenkäs« und Schoppe im »Titan«. Auch die Örtlichkeiten der Dichtung haben wir bereits im allgemeinen identifiziert. Maußenbach, das Gut des Kommerzienagenten, ist Töpen. Auenthal halb Joditz, halb Venzka. Lilienbad, in dem die Seligkeit der Liebenden sich anhebt, ist halb Venzka, halb das bei Venzka gelegene Bad Steben, das Jean Paul öfters mit Spangenbergs besucht hat. In Scheerau erkennen wir Hof wieder. Wenn es von den Scheerauern heißt: »Sie hassen schöne Wissenschaften so sehr wie sich untereinander – unfähig gesellschaftliches Vergnügen zu entbehren, zu
Weitere Kostenlose Bücher