Säule Der Welten: Roman
seine Leute marschierten an der Grenze zu Vatoris auf und ab, schnüffelten und tauschten Vermutungen aus. Es rieche nach Tod.«
An diesem Abend kehrte Odess nach Hause zurück, um sein Volk zu warnen. »Aber es war schon zu spät. Als ich mich schlafen legte, hörte ich es - wir hörten es alle.« Ein Zischen ging durch Liris’ Räume. Es war sehr leise, aber für jemanden wie Odess, der sein ganzes Leben hinter diesen Mauern verbracht hatte, wirkte es wie das Schrillen einer Sirene.
»Ich stand auf und wollte zur Tür laufen. Aber ich fiel zu Boden.« Die anderen berichteten von ähnlichen Erlebnissen, von plötzlichen Lähmungen, Stürzen hinter Schreibtischen oder neben Türen, die im Wind schwankten. »Alle lagen hilflos da, wir konnten nicht einmal unsere Augen scharf stellen. Aber wir lauschten .«
Nach etwa einer Stunde hörten sie die Schritte einer einzelnen Person. Sie wanderten langsam von Zimmer zu Zimmer, treppauf und treppab, nicht so, als würde derjenige etwas suchen, sondern als mache er eine Bestandsaufnahme - als wolle er sich jeden Gang, jeden Raum der Nation Liris einprägen. Endlich verstummten die Schritte. Die Stille kehrte zurück.
Die Lähmung verschwand kurz vor Tagesanbruch. Odess erhob sich, würgte ein paar Minuten lang hilflos und schlich dann - zitternd - in die Richtung, in der die Schritte verklungen waren. Auch andere kamen aus ihren Zimmern oder richteten sich auf, wo immer sie lagen. Alle steuerten auf die Stelle zu, wo die Schritte
aufgehört hatten: es war der Hof mit den Kirschbäumen.
»Und da saß sie«, sagte Odess, »so wie sie immer noch da sitzt, mit dem gleichen verdammten Lächeln und der gleichen verdammten Überheblichkeit. Die Botanikerin. Unsere Eroberin.«
»Und niemand hat sich gegen sie gewehrt?« Venera stieß ein ungläubiges Lachen hervor. »Ihr habt Angst vor Vergeltung, ist es das?«
Odess zuckte die Achseln. »Sie hat den Krieg beendet, und unter ihrer Herrschaft blühen die Kirschbäume wieder. Von wem sollten wir uns sonst führen lassen?«
Venera schaute stirnrunzelnd in ihre Karten. Eine Schmerzwelle schoss durch ihren Unterkiefer. »Ich dachte, ihr wärt eine Meritokratie?«
»Das sind wir auch. Und sie ist die beste Botanikerin, die wir jemals hatten.«
»Was wurde aus ihrem Vorgänger?«
Die anderen wechselten Blicke. »Das wissen wir nicht«, gestand Eilen. »Er verschwand an dem Tag, als Margit kam.«
Venera warf eine Karte ab und zog eine andere vom Stapel. Die anderen folgten ihrem Beispiel, dann legte sie ihr Blatt aus. »Ich habe gewonnen.«
Odess schnitt eine Grimasse und begann zu mischen.
»Sie kam gestern Abend zu mir«, sagte Venera. Sie hatte entschieden, dass im Moment Informationen wichtiger waren als Diskretion. »Margit war zufrieden mit meiner Arbeit.« Odess schnaubte; Venera fuhr fort, ohne ihn zu beachten. »Sie machte mir einen Vorschlag.«
Sie erzählte von Margits Plan einer größeren Handelsexpedition in die Prinzipalitäten. Dabei bemerkte sie, wie am Tisch jede Bewegung eingestellt wurde. Sogar Odess’ geübte Hand hörte auf, die Karten aufzufächern. Alle starrten sie an.
»Was ist?« Sie sah gekränkt in die Runde. »Wird dadurch irgendein altes Tabu verletzt? - Natürlich; hier verstößt doch alles gegen irgendein Tabu. Oder wolltet ihr das seit Jahren durchsetzen und seid jetzt sauer, weil die Neue es geschafft hat?«
Eilen schlug die Augen nieder. »Es ist nicht der erste Versuch«, sagte sie leise.
»Du musst das verstehen«, sagte Odess und verstummte wieder. Tiefe Falten gruben sich in seine Stirn, und er begann wie wild zu mischen.
»Was?« Jetzt war Venera wirklich beunruhigt. »Was habt ihr denn?«
»Reisen außerhalb von Spyre … sind einfach nicht üblich«, sagte Odess zögernd. »Zumindest nicht, ohne sicherzustellen, dass die Leute auch wieder zurückkehren. Durch Geiseln, wenn sie verheiratet sind … aber das trifft auf dich nicht zu.«
Venera war empört. »Die Bunker, die Geschütze, der Stacheldraht - sie sind eigentlich nicht dafür gedacht, die Leute draußen zu halten, nicht wahr? Sie sollen dafür sorgen, dass sie drin bleiben.«
»Ja, aber wenn Margit dich nach auswärts schicken will, obwohl dich hier nichts hält, obwohl du keine Geiseln stellen kannst, obwohl es nichts gibt, womit sie dich unter Druck setzen könnte … dann ist sie offensichtlich bereit, es noch einmal zu versuchen«, sagte Odess. Er warf die Karten auf den Tisch, stieß seinen
Stuhl zurück und
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