Säule Der Welten: Roman
ein schreckliches Unglück!«
Unten stürmte jemand in den Hof und rannte auf die Schwerverletzten zu. Erstaunt erkannte Venera Garth Diamandis. Er rief einigen Opfern, die unter Schock standen, aber unversehrt waren, einen Befehl zu; sie setzten sich langsam in Bewegung und schwärmten aus, um die am Boden Liegenden zu untersuchen.
Bis zu diesem Moment war Venera noch gar nicht auf die Idee gekommen, dass auch sie helfen sollte. Zunächst spürte sie Überraschung, und dann … war es Zorn? Sie war wütend auf Diamandis, ja, das musste es sein. Aber - sie dachte an die Zustände an Bord der Krähe beim Angriff der Piraten und hinterher. So viel Angst und Schmerz, und Verwundete waren in solchen Momenten für die kleinste Geste unendlich dankbar. Die Flieger hatten spontan getan, was sie konnten - sie hatten Erste Hilfe geleistet, Verbände angelegt, Blut gespendet.
Sie drehte sich um und schaute zur Treppe, aber es war zu spät. Die Sanitäter waren schon da. Stirnrunzelnd sah sie die weißen Uniformen durch den schwarzen Schutt eilen. Dann zündete sie ihre Laterne an und kehrte zum Torbogen zurück.
»Wenn mein Diener fertig ist, schicken Sie ihn zu mir«, sagte sie ruhig und betrat ganz allein den lange verschlossenen Stammsitz der Buridans.
Während der Wind um die Mauern des Turmes pfiff, hatten sie in einem verlassenen Schlafgemach gesessen, wo der Boden schwankte und man die Luft in den mächtigen Rohren unter dem Gebäude seufzen hörte, und Diamandis hatte Venera Geschichten von Buridan und von anderen Dingen erzählt.
»Sie waren Pferdezüchter«, begann er. »Man kann sich kein unpraktischeres Produkt vorstellen - Geschöpfe, die eimerweise Futter und endlosen Auslauf brauchten und keinen einzigen Tag im freien Fall überleben konnten. Aber so wunderschön, dass Besucher von Spyre sich regelmäßig in sie verliebten. Ein Pferd zu besitzen,
war das ultimative Zeichen von Macht, denn es bedeutete, dass man Schwerkraft im Überfluss hatte.«
»Aber das muss doch Jahrhunderte her sein«, hatte sie gesagt. Venera konnte Diamandis kaum verstehen, obwohl die Tür fest geschlossen war und der Raum keine Fenster hatte. Der Turm war überflutet von Geräuschen, vom Knarren der Balken und dem Tosen des Windes bis zu den dröhnenden Bassgesängen, die alle Oberflächen in Schwingungen versetzten. Noch bevor sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bevor sie den reinen, strengen Geruch von Räumen und Gängen einatmen konnte, die der Wind über Jahrhunderte blankgescheuert hatte, hätten Buridans kehlige Schreie sie fast wieder hinausgetrieben.
Sie hatten eine Stunde gebraucht, um herauszufinden, woher die Basstöne kamen: aus dem Fundament des Buridan-Turms ragte ein Bündel von riesigen Rohren, das sich wie eine riesige Windorgel benahm. Es summte und klagte, wimmerte und jaulte unaufhörlich.
Diamandis schlug gegen die Wand. Der achteckige Raum enthielt ein Sammelsurium von Töpfen, Pfannen und anderem Küchengerät; aber hier war es im Vergleich zu den Schlaf- und Wohnräumen der früheren Bewohner halbwegs ruhig. »Buridans goldene Zeiten sind längst vorbei«, sagte er. Die alte Lampe, die sie mitgebracht hatten, beschien sein Gesicht von unten. Er sah fast aus, als schämte er sich. »Aber das Volk von Spyre hat ein langes Gedächtnis. Unsere Aufzeichnungen reichen zurück bis zur Erschaffung der Welt.«
Bevor sie sich in jener Nacht zur Ruhe legten und auch am nächsten Tag, während sie durch den Turm
schlenderten, wo alles im Chaos lag, erzählte er ihr von Spyres vergangener Pracht. Im Rückblick verschmolzen für Venera die Erinnerungen miteinander: seine Geschichten wurden begleitet von Bildern leerer, verlassener Räume. Größenwahn, Alter und Verzweiflung bildeten den Rahmen für seine Stimme; Größenwahn, Alter und Verzweiflung prägten fürderhin ihre Vorstellung vom Virga der Antike.
Er sprach von riesigen Maschinen, größer als Städte, die einst Virgas Mauern geschaffen hatten. Wenn man Diamandis glauben wollte, waren diese Maschinen lebendig und besaßen Bewusstsein, und Maschinen wie Menschen waren ihre Nachkommen. Sie hatten die kalte, schwarze Leere im Umfeld eines Sterns besiedelt, nachdem sie ihre Heimat verlassen hatten und jahrhundertelang durchs All geflogen waren.
»Absurd!«, hatte Venera ausgerufen. »Ich will mehr hören.«
So hatte er von den ersten Menschengenerationen berichtet, die in Virga gelebt hatten. Diese Männer und Frauen betrachteten die Welt
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