SÄURE
Auftragsdienst. Ich habe einen Anruf von einer Melissa Dickinson. Sie sagt, es ist ein Notfall!«
»Geben Sie sie mir bitte.«
Es klickte.
»Dr. Delaware!«
»Was ist, Melissa?«
»Es ist wegen Mutter!«
»Was ist mit ihr?«
»Sie ist fort! Oh Gott, bitte helfen Sie mir! Ich weiß nicht, was ich tun soll!«
»Okay, Melissa, nun mal langsam, und sagen Sie mir genau, was geschehen ist.«
»Sie ist fort, sie ist fort! Ich kann sie nirgendwo finden, nicht auf dem Grundstück und in keinem der Zimmer. Ich habe sie gesucht, wir haben alle gesucht, aber sie ist nicht hier! Bitte, Dr. Delaware…«
»Wie lange ist sie denn schon fort, Melissa?«
»Seit halb drei! Sie ist zu ihrer Drei-Uhr-Gruppe in die Klinik gefahren, sollte bis halb sechs zurück sein, und es ist vier Minuten nach sieben, und sie wissen auch nicht, wo sie ist. Oh Gott!«
»Wer sind sie?«
»Die Klinik, die Gabneys. Da ist sie hingefahren. Sie hatte ein Gruppentreffen, von drei bis fünf. Normalerweise fährt sie mit Don oder jemand anderem. Einmal habe ich sie hingebracht, aber diesmal…« Sie keuchte und rang nach Luft.
Ich sagte: »Wenn Sie das Gefühl haben, keine Luft zu bekommen, suchen Sie sich eine Papiertüte und pusten langsam hinein.«
»Nein, nein, es geht. Ich muß Ihnen alles erzählen.«
»Ich höre zu.«
»Ja, ja, wo war ich? Oh Gott!«
»Normalerweise fährt sie mit jemandem, aber diesmal…«
»Sie sollte mit ihm hinfahren, Don, aber sie beschloß, selbst zu fahren, hat darauf bestanden! Ich wollte ihr abraten, aber sie bestand darauf, daß sie es selbst könnte, aber sie konnte es nicht! Ich will nicht recht haben oder meinen Kopf durchsetzen, ich will sie nur wiederhaben, will, daß sie okay ist!«
»Sie ist überhaupt nicht in der Klinik aufgetaucht?«
»Nein! Und sie haben uns erst um vier angerufen, um es uns mitzuteilen. Sie hätten uns sofort anrufen sollen, nicht wahr?«
»Wie lange fährt man bis zur Klinik?«
»Zwanzig Minuten - höchstens. Sie ist eine halbe Stunde vorher weggefahren, sie hatte mehr als genug Zeit. Sie hätten es wissen müssen! Wenn sie sofort angerufen hätten, hätten wir sofort nach ihr suchen können. Sie ist seit über vier Stunden weg. Oh Gott!«
»Ist es möglich«, fragte ich, »daß sie es sich anders überlegt hat und anderswohin in die Klinik gefahren ist?«
»Wohin denn? Wohin sollte sie denn fahren?«
»Ich weiß es nicht, Melissa, aber nachdem ich mit Ihrer Mutter gesprochen habe, kann ich mir vorstellen, daß sie etwas improvisieren oder aus ihrer Routine ausbrechen wollte. Das ist nicht ungewöhnlich bei Patienten, die ihrer Ängste Herr werden, manchmal werden sie dabei ein bißchen unvorsichtig.«
»Nein!« sagte sie, »das würde sie nicht tun, nicht ohne anzurufen. Sie weiß, wie sehr ich mir Sorgen machen würde. Sogar Don macht sich Gedanken, und er hat ein dickes Fell. Er hat die Polizei angerufen, und sie haben nach ihr Ausschau gehalten, aber sie haben sie nicht gefunden oder den Dawn…«
»Sie ist mit dem Rolls-Royce losgefahren?«
»Ja…«
»Dann sollte sie nicht zu schwer zu finden sein, nicht mal in San Labrador.«
»Warum hat sie dann niemand gesehen? Wie kann es sein, daß niemand sie gesehen hat, Dr. Delaware?«
Ich dachte an die leeren Straßen und hatte bereits eine Antwort parat. »Ich bin sicher, daß jemand sie gesehen hat«, sagte ich. »Vielleicht hat sie Probleme mit dem Wagen gehabt, es ist ein altes Modell. Nicht einmal die Rolls sind perfekt.«
»Unmöglich, Noel hält die Wagen tipptopp in Ordnung, und der Dawn war wie neu. Und wenn sie Probleme mit dem Wagen hätte, würde sie anrufen! Sie würde mir das nicht antun. Sie ist wie ein Kind, Dr. Delaware - sie kann da draußen nicht überleben, sie hat keine Ahnung, was draußen los ist. Oh Gott, was ist, wenn sie einen Anfall bekommen hat und von einer Klippe abgestürzt ist und hilflos daliegt…! Ich halte es nicht mehr aus! Es ist einfach zuviel, zuviel!«
Ein Schluchzen kam aus dem Hörer, so laut, daß ich unwillkürlich den Kopf zurückriß. Ich hörte sie Luft holen. »Melissa…«
»Ich drehe durch, bekomme keine Luft…«
»Entspanne dich«, befahl ich ihr, »du bekommst Luft! Du bekommst wunderbar Luft! Versuch’s einfach! Atme regelmäßig und langsam!«
Ein Keuchen und Würgen am anderen Ende.
»Atme, Melissa! Los, tu’s! Ein und aus - ein und aus - merkst du, wie die Muskeln locker werden und sich mit jedem Atemzug, den du machst, dehnen? Merkst du, wie du dich
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