Safa: Die Rettung der kleinen Wüstenblume
zweiten Mal Mutter eines gesunden Kindes geworden war.
Schon als mein erster Sohn zur Welt gekommen war, hätte ich gerne mein Glück mit ihr geteilt. Doch damals lebte ich in den fernen USA , und Aleeke war nach der Trennung von meinem Lebensgefährten bei seinem Vater geblieben. Als Alleinerziehende wäre ich meiner Mutterrolle einfach nicht gerecht geworden. Zu diesem Zeitpunkt begann gerade mein Kampf gegen die Genitalverstümmelung, was mit vielen Reisen und einem unkonventionellen Lebenswandel verbunden war. Heute sah meine Welt völlig anders aus. Heute waren meine beiden Söhne das Wichtigste in meinem Leben, und meine Aufgaben als Mutter ließen sich viel besser mit meiner Arbeit vereinbaren als all die Jahre zuvor.
»So ein süßer Junge«, freute sich meine Mutter und herzte ihn überschwenglich. »Auf den musst du gut aufpassen.«
Auch diesmal wusste ich sofort, was sie mir damit sagen wollte. Immerhin war es schon lange ihre große Hoffnung, dass ich eines Tages meinen Feldzug gegen FGM aufgeben und mich ganz auf die Rolle der Hausfrau und Mutter konzentrieren würde. Langsam begann die Wut von vorhin wieder in mir zu brodeln. Warum konnte Mama nicht verstehen, dass ich nie ein unterdrücktes Leben wie sie führen und meinen Einsatz für die Emanzipation afrikanischer Frauen aufgeben würde?
Niemals!
Gerade wollte ich meinen Appell fortführen, den ich begonnen hatte, ehe das Kindermädchen mit Leon hereingekommen war. Da überraschte mich meine Mutter mit ihrer Bemerkung zutiefst.
»Waris«, sagte sie mit zittriger Stimme, »ich habe doch deine kleine Nichte Hawo aus Somalia mitgebracht.«
»Ja, ich habe vorhin bei der Premiere kurz mit ihr gesprochen. Was ist denn mit ihr, Mama?«, fragte ich unsicher.
»Du musst sie unbedingt mit nach Europa nehmen. Nur du kannst sie retten.«
Ich ahnte Böses – und erhielt im nächsten Moment die traurige Bestätigung.
»Deine Schwägerin möchte sie demnächst beschneiden lassen, und das wird niemand bei uns zu Hause verhindern können.«
Ich konnte nicht glauben, was ich da eben gehört hatte. Meine Mutter, die das Beschneidungsritual stets verteidigt und mit mir darüber jahrelang auf Biegen und Brechen gestritten hatte, wollte nun ihre Enkeltochter davor bewahren. Fragend blickte mich Mama an, die immer noch den kleinen Leon im Arm hielt.
»Hast du … etwa allen Ernstes deine Meinung … geändert, Mama?«, stammelte ich endlich.
Meine Mutter sah mir direkt in die Augen und atmete tief ein. Dann sagte sie: »Waris, was da mit den Mädchen gemacht wird, ist unsere Tradition und Kultur. Ich kenne es nicht anders. Bis vor ein paar Jahren wusste ich nicht einmal, dass es Frauen gibt, die nicht beschnitten sind.«
Ich glaubte ihr sofort. Tatsächlich sind viele Frauen, selbst in meiner eigenen und den nachfolgenden Generationen, der Meinung, dass sie ihr Schicksal mit allen Frauen weltweit teilen.
»Heute weiß ich«, fuhr sie fort, »dass man auch anders leben kann. Ohne Leid und ohne Schmerzen. Außerdem habe ich Angst um meine Enkelkinder. So viele Mädchen sterben nach der Beschneidung. Aber ich selbst kann Hawo nicht retten. Du dagegen kannst es! Bitte, Waris, hol sie zu dir.«
Ich wusste, dass ich ihr diesen Wunsch nicht abschlagen konnte. Dass ich alles daransetzen musste, meine Nichte zu schützen. »Keine Sorge, wir werden eine Lösung finden. Ich werde Hawo … und vielleicht auch ihren Bruder Mo mit nach Europa nehmen«, versprach ich ihr.
Nachdem meine Mutter zu Bett gegangen und auch Leon eingeschlafen war, ging ich hinaus auf den kleinen Balkon meines Hotelzimmers. Hell funkelte der Sternenhimmel über den bereits dunkel gewordenen Straßen von Addis Abeba. Ob ich meinen Bruder wohl dazu überreden konnte, mir seine beiden Kinder zu überlassen? »Ich möchte eines Tages so sein wie du«, hatte mir meine Nichte nach der Filmvorführung vorhin ins Ohr geflüstert.
Daraufhin erklärte ich ihr, dass sie zuerst die Schule fertig machen müsse.
»Papa sagt, dass wir bald kein Geld mehr haben«, entgegnete Hawo daraufhin traurig. »Vor ein paar Wochen hat er seinen Job als Wachmann verloren.«
Erst jetzt, als ich mir das Gespräch noch einmal in Erinnerung rief, wurde mir klar, warum meine Schwägerin es so eilig hatte, Hawo beschneiden zu lassen. Der Brautpreis für das Mädchen würde die Versorgung der Familie zumindest für die nächsten Monate sichern. Nein, das durfte ich nicht zulassen. Hawo und Mo mussten mit mir nach Europa
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