Sag, dass du eine von ihnen bist
wachsamem Blick den ganzen Bus ab, suchte nach der wahren Natur dessen, was sie am Bildschirm sahen.
Einige Flüchtlinge weinten, andere jubelten, als die Nachrichten neue Kampfszenen aus Khamfi zeigten. Kolonnen von Leuten aus dem Norden und Süden gingen aufeinander los und schwangen dabei Macheten oder automatische Waffen. Irrsinn peitschte den roten Staub von Khamfi auf. Viele Stadtviertel standen in Flammen, der Himmel verschmutzt von ihren Rauchfahnen.
Emeka sprang auf, schleuderte seinen Affenfellmantel auf den Boden und rief begeistert: »Der da, der Mann mit dem großen Gewehr links in der Gruppe, das ist mein Vetter! Der so
viele Rosenkränze und Skapuliere um seine Waffe gewickelt hat …«
»Tatsächlich? Dein richtiger Vetter?«, fragte Madame Aniema.
»Ganz genau … Er heißt Dubem Okonkwo. Ich heiße Emeka Okonkwo.« Wieder zeigte er auf den Bildschirm. »Und das da ist mein Freund … Thomas Okoromadu Ikechi … dieser muskulöse Kerl da mit nacktem Oberkörper und brauner Hose. Wir sind alle aus Anambra.«
»Ach, aus Anambra?«, fragte Ijeoma.
» Kpom kwem! «, sagte Emeka und sah wie gebannt auf den Bildschirm. »Komm schon, Tom, gib's ihnen. Macht sie fertig … Pustet diesen heidnischen Muslimen mit euren Brandbomben die Köpfe weg!«
»Bin auch aus Anambra«, sagte Ijeoma. » Na, mein Zuhause.«
Doch Emeka beachtete sie überhaupt nicht. »Mein Dubem, zeig's ihnen. Diese Leute haben eine Lektion verdient.«
»Genau, das Land gehört uns genauso wie denen!«, sagte Ijeoma.
Der Kampf am Bildschirm ging weiter. Mal behielten die Christen die Oberhand, dann wieder siegten die Muslime. Viele Passagiere erinnerten die Szenen in Khamfi wohl eher an eine dieser Städte im Süden, im Delta, in die General Sani Abacha seine Soldaten geschickt hatte, um sie dem Erdboden gleichzumachen. Die Einheimischen dort hatten nach vier Jahrzehnten der Vernachlässigung und Umweltzerstörung durch regierungstreue, multinationale Ölkonzerne verlangt, dass ihr Land erschlossen werden sollte. Regierungstruppen waren mit Panzern und Raketenwerfern ins Delta eingedrungen, um das Volk zu terrorisieren. Einige Reporter behaupteten, man hätte der Regierung den perfekten Vorwand geliefert, die zunehmend rebellischen Öldörfer im Delta zu unterwerfen, andere sagten, es sei einfacher, Öl zu bohren, wenn keine hungrigen, ungebildeten Einheimischen herumstanden und immerzu um Le
bensmittel, Wasser und Medizin bettelten. So oder so, die wenigen Überlebenden waren geflohen und hatten Zuflucht in den großen, multiethnischen Städten, in Lagos, Kaduna, Jos oder Khamfi, gesucht.
Während Emeka seine Leute anfeuerte, berührte Jubril den Häuptling behutsam an der Schulter und beugte sich vor, um ihm ins Ohr zu flüstern.
»Wer hat dir erlaubt, einen königlichen Vater anzufassen?«, zischte Häuptling Ukongo.
»Mmmm«, nuschelte Jubril und tat einen Schritt zurück.
Niemand hörte ihnen zu: Alle folgten wie gebannt dem Geschehen auf der Mattscheibe. Jedes Mal, wenn jemand aus der Toilette kam, wichen sie ein wenig zurück, als könnte es sich niemand leisten, auch nur einen Moment zu verpassen.
»Warte mal, wer bist du eigentlich?«, fragte der Häuptling, als hätte er Jubril gerade erst bemerkt. »Rück mir nicht so auf die Pelle!«
» Yessa «, erwiderte Jubril.
Manche starrten wütend herüber, da die Stimme des Häuptlings sie von der Nachrichtensendung ablenkte, doch ließ sich der alte Mann nicht beirren. Gemächlich fächelte er sich Luft zu. Bei seinem Verhalten, seinem herrischen Ton, fiel es nicht schwer, sich vorzustellen, dass er früher große Achtung genossen und enge Verbindungen zu den Generälen gehabt hatte. Seit Einführung der sogenannten Demokratie aber ging es mit ihm bergab, und vermutlich hatte er sogar an Bedeutung verloren. Dennoch weigerte er sich zu glauben, dass er schon auf das Niveau dieses schmutzigen, anmaßenden Halbwüchsigen herabgesunken war.
»Ich hab gefragt, wer du bist«, wiederholte der Häuptling. »Wer bist du … Platzdieb?«
Der Junge flüsterte: »Nein … Jubril …«
Sobald ihm dämmerte, dass er seinen muslimischen Namen genannt hatte, richtete sich Jubril mit klopfendem Herzen ker
zengerade auf. Er blickte sich um, da er fürchtete, es könnte ihn jemand gehört haben, doch beachtete ihn niemand. Also täuschte er ein Lächeln vor, rückte näher an den Häuptling heran, legte einen Finger auf den Mund, um seinen Akzent zu kaschieren, und sagte:
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