Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
ist unmöglich, mein kleines Eselein.«
Ich frage nach Tash. Ist sie in der Nähe? Wann darf ich sie sehen?
Seine Stimmung schlägt plötzlich um, als hätte man auf einen Schalter gedrückt. Er ohrfeigt mich und schlägt meinen Kopf gegen die Wand. Er hebt erneut die Hand und sieht mich herausfordernd an.
»Vergiss sie.«
»Ich bin so allein.«
»Ich finde eine andere Freundin für dich.«
»Was?«
»Jemanden, der dir Gesellschaft leistet, eh?«
Meine Gedanken stocken. Meint er etwa das, was ich denke?
»Nein … wen denn?«
»Ich kann jemanden finden.«
»Nein! Nein! Bitte nicht!«
Er nimmt ein Foto aus seiner Brieftasche. »Wie wär’s mit ihr?«
Meine Kehle schnürt sich zu. Es ist ein Bild von Emily. Ich kenne das Foto. Wir haben in einem Fotoautomaten im Bahnhof von Oxford rumgealbert und Grimassen gezogen.
»Ist sie deine Freundin?«
»Nein.«
»Du hast ihr einen Brief geschrieben.«
»Ich will keine Freundin.«
Noch während ich die Worte ausspreche, weiß ich, dass ich nicht restlos überzeugt bin. Ich möchte jemanden zum Reden haben. Ich möchte nicht allein sein. Entsetzt schiebe ich den Gedanken beiseite und hasse mich dafür.
»Ich will bloß Tash. Sonst niemanden«, sage ich.
»Das ist nicht möglich. Sie wird immer noch bestraft.«
Er führt mich zurück zu der Falltür und küsst mich. Dann lässt er mich herunter, bis ich die oberste Sprosse der Leiter unter meinen Füßen spüre.
»Wenn du eine Freundin möchtest, verspreche ich, dir eine zu besorgen.«
»Nein. Lassen Sie Tash zurückkommen.«
Die Falltür schließt sich.
»Das kann ich dir nicht versprechen.«
31
Sechzehn Stunden sind seit dem Brand vergangen. Die meisten davon habe ich verschlafen. Als ich aufwache, liegt frischer Schnee auf den Bürgersteigen und Parks und hat die Welt in Weiß getaucht.
Augie Shaw ist ironischerweise zum ersten Mal in seinem Leben eine sympathische Figur geworden, nicht Bösewicht, sondern Opfer. Laut dem Guardian ist die Polizei verantwortlich. Sie habe zu langsam reagiert. Die Daily Mail findet, man hätte Augie Shaw nie gegen Kaution entlassen dürfen; der Richter habe offensichtlich den Kontakt zur Realität verloren oder sei geistesgestört.
Ich lege die Zeitungen beiseite und verteile ein Dutzend Fotos in dem Hotelzimmer, stelle sie auf Stühle und den Fernsehschrank. Dann setze ich mich in die Mitte, direkt vor mir ein Bild von Natasha und Piper, die auf einem Klassenfoto nebeneinandersitzen, hell und dunkel, blond und brünett, Salz und Pfeffer.
Natasha ist eine klassische Schönheit und strahlt eine eigenartige Mischung aus Verletzlichkeit und Sinnlichkeit aus. Verglichen mit ihr wirkt Piper beinahe jungenhaft und kantig.
Ich fange an, dieses Verbrechen zu verstehen. Bisher schwebten die Details knapp außer Reichweite, doch jetzt fügen sie sich zu einem Bild. Die Person, die für die Tat verantwortlich ist, ist kein Rätsel und Fantasiegebilde mehr, nicht länger ein Geschöpf meiner Einbildungskraft. Ich kann die Welt mit seinen Augen sehen und hören, was er hört.
Er ist ein Sammler. Er hat Freude daran, Dinge zu besitzen, seltene Objekte, wertvolle Artefakte, Sachen, die man ihm in der Vergangenheit verwehrt hat. Manche Sammler verlieben sich in große Kunstwerke. Manche geben einen Diebstahl in Auftrag, obwohl sie wissen, dass sie nicht hoffen können, ein derart berühmtes Werk wiederzuverkaufen oder öffentlich auszustellen. Das ist egal. Es geht um den Besitz, nicht um Großzügigkeit, darum, etwas Unerreichbares zu haben und sich im Glanz seiner Vollkommenheit zu sonnen.
Er ist ein Ästhet, der sich nach Kontrolle und Ordnung in einer unordentlichen Welt sehnt. Ein äußerst disziplinierter Mann, der zu logischem Denken fähig ist, dem aber jegliches Moralbewusstsein fehlt. Er glaubt nicht, dass er an dieselben Regeln gebunden ist wie andere Leute, ist jedoch gewillt, dem Gesetz Folge zu leisten, weil es ihm hilft, sein Begehren zu verbergen. Andere würden eh nicht verstehen, was es bedeutet, etwas »zu besitzen«. Die vollkommene Kontrolle über ein anderes menschliches Wesen zu haben – Leben, Tod, Licht, Dunkelheit, Wärme, Kälte und Nahrung.
Was hat diese Sehnsucht geweckt? Wo hat sie angefangen? Eine ohnmächtige Kindheit, eine chaotische Geschichte, unerfüllbare Erwartungen; eine ganze Reihe von Faktoren kommt infrage, jedenfalls ist in ihm im Laufe der Zeit das Gefühl herangewachsen, dass er Anspruch auf etwas hat. Oder es macht ihn vielleicht
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