Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
führen, wenn alle schlafen.
Emily ist in die Küche gegangen. Phillip Martinez zündet den Gaskamin an und bauscht die Sofakissen auf. Er hat ein glattes, beinahe feminines Gesicht und praktisch keine Augenbrauen.
»Das Ganze war eine schreckliche Geschichte, junge Mädchen, die weglaufen. Die Ungewissheit. Da fragt man sich …«
»Was?«, will ich wissen.
»Verzeihung?«
»Was fragt man sich?«
»Was ist mit ihren Familien?« Bei ihm klingt es so offensichtlich. »Wenn zu Hause alles in Ordnung gewesen wäre, wären sie nicht weggelaufen.«
»Und wenn sie entführt wurden?«
»Nun, das würde alles ändern.« Er betrachtet mich. Mein linker Arm zittert.
»Welches Stadium?«
»Verzeihung?«
»Ihr Parkinson – welches Stadium?«
»Eins.«
»Seit wann?«
»Acht Jahre.«
»Das ist langsam, Sie haben Glück.«
»So versuche ich es auch zu sehen.«
»Es ist eigentlich nicht mein Feld.«
»Ihr Feld?«
»Ich arbeite als Wissenschaftler in der Forschung. Ich bin am Institut für biomedizinische Studien an der Universität. Wir forschen an gentherapeutischen Verfahren gegen Diabetes, Alzheimer und Muskelschwund. Parkinson ist ein weiterer Bereich. Einige meiner Kollegen arbeiten an wichtigen Forschungsprojekten. Sie sollten mal vorbeikommen und es sich ansehen. Ich könnte eine Führung für Sie arrangieren.«
»Danke.«
»Das ist einer der Gründe, warum Emily gegenüber Fremden recht ängstlich reagiert.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Wir machen auch Tierversuche. Hauptsächlich mit Schimpansen. Beim Bau des Labors gab es Probleme. Proteste. Brandanschläge. Drohungen.«
»Wurden Sie auch bedroht?«
»Mein letztes Auto wurde mit Säure übergossen, und Sie sollten einige der Briefe sehen, die ich bekomme. Ich habe Emily beigebracht, wachsam zu sein.«
»Ich hoffe, ich habe sie nicht erschreckt.«
»Oh, ihr geht es gut. Ein wenig übererregbar. Wie ihre Mutter.«
Emily taucht wieder auf, in Händen ein Tablett mit Teekanne und Tassen. Mr Martinez nimmt es ihr ab.
»Ich lasse Sie beide allein. Ich muss noch ein paar E-Mails beantworten. Ich bin oben.« Er wendet sich an Emily. »Wenn du etwas weißt, was weiterhelfen könnte, sag es ihm, Schätzchen.«
Emily nickt, lauscht den Schritten ihres Vaters und stellt sich seinen Weg durch das Haus vor. Höher. Weiter weg. Schließlich ist sie zufrieden, streicht sich den Rock über den Schenkeln glatt, setzt sich auf die Sofakante und zupft an einem Ärmel ihres Pullovers. Sie wirkt vorsichtig und angespannt und strahlt die resignierte Erwartung aus, jeden Moment wegen irgendwas getadelt zu werden.
Ich habe ihre Aussagen gelesen. Emilys Geschichte hat sich nicht verändert. Aus Erfahrung weiß ich, dass sich die Wahrnehmung mit der Zeit wandelt. Ich beginne behutsam, frage sie nach Piper und Natasha, wie sie sich kennengelernt und was sie gemeinsam gemacht haben.
Sie kaut an ihrer Nagelhaut, nickt hin und wieder oder schüttelt den Kopf. Sie will nicht mit mir reden, und ich kenne die Codes nicht, um ihren Widerstand zu überwinden – die rätselhafte Mischung aus Vertrauen und gemeinsamer Erfahrung, die Mädchen im Teenageralter in Gesellschaft ihrer Freundinnen ununterbrochen schwatzen, aber sofort verstummen lässt, wenn ein Erwachsener den Raum betritt. Würde ich das Geheimnis kennen, könnte ich auch mit meiner eigenen Tochter reden.
»Hast du Geheimnisse, Emily?«
»Was meinen Sie damit?«
»Du weißt doch, was Geheimnisse sind?«
Sie nickt nervös.
»Wir haben alle Geheimnisse. Geheime Verstecke, einen geheimen Schwarm, Dinge, die wir insgeheim bedauern. Wir haben Gesichter, die wir den meisten anderen Menschen nicht zeigen, nur unseren Freunden.«
Emily starrt mich an, stirnrunzelnd und teilnahmslos wie ein Patient mit Gedächtnisverlust.
Ich versuche es noch einmal. »Warum wolltest du weglaufen?«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Du musst doch einen Grund gehabt haben. Ich weiß, dass Natasha Probleme in der Schule hatte. Du auch?«
»Nein.«
»Dann zu Hause?«
Sie zögert und blickt zur Treppe, besorgt, dass ihr Vater mithören könnte.
»Meine Mum war krank. Sie hatte einen Zusammenbruch.«
»Wo ist deine Mutter jetzt?«
»Sie lebt in einer Pension in London. Es geht ihr langsam besser.«
»Das ist schön.«
Emily zupft am Saum ihres karierten Rocks. Sie hat ihren Tee noch nicht angerührt.
»Wessen Idee war es abzuhauen?«
»Tashs.«
»Wo wolltet ihr hin?«
Sie hebt und senkt die Schultern.
»Ihr müsst euch doch
Weitere Kostenlose Bücher