Sag mir, wo die Mädchen sind
Einkaufen oder ins Kino, eilten zu ihren Liebsten. Keiner von ihnen ahnte, dass das Leben einer ihrer Mitbürgerinnen nie mehr so sein würde wie früher, sondern für immer in zwei Teile zerfiel, in die Zeit vor und nach der Vergewaltigung. Heini begriff das vielleicht noch nicht. Ich wusste es nur allzu gut.
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17
D ie Warteschlange in der Poliklinik war unendlich lang. Meine Sorge, dass Heini das Sperma abwusch, wenn sie zur Toilette ging, war lachhaft gewesen. Sie musste noch zweimal auf die Toilette, bevor sie endlich an der Reihe war. Aber sie kannte ja die Instruktionen und wusste sich wohl vorzusehen.
Heinis Bruder wohnte in Lippajärvi. Ich rief ihn mit ihrem Handy an, und er erschrak, als er die Stimme einer Wildfremden hörte. Ich sagte ihm nur, dass seine Schwester überfallen worden sei und jetzt in der Klinik auf die ärztliche Untersuchung warte. Der Bruder versprach, so bald wie möglich zu kommen, er sei gerade in einer geschäftlichen Verhandlung.
«Was hat man ihr denn angetan? Muss sie im Krankenhaus bleiben?»
«Was passiert ist, wird sie Ihnen selbst erzählen, und über die Krankenpflege entscheidet der Arzt. Sie ist aber nicht in Lebensgefahr und hat auch keine schweren körperlichen Verletzungen.»
Heini saß mit geschlossenen Augen und schweigend im Wartezimmer. Auf meine Frage, ob sie etwas essen oder trinken wolle, schüttelte sie nur den Kopf. Dennoch holte ich ihr am Automaten Wasser und einen Schokoriegel.
«Nur noch zwei vor dir», sagte ich bei der Rückkehr. Ich hatte darauf gedrängt, dass Heini vorgezogen wurde, jedoch eine barsche Antwort erhalten: Jeder musste warten, bis er an der Reihe war.
«Der Arzt wird dir wahrscheinlich ein Schlafmittel geben. Das solltest du nehmen, auch wenn du bisher ohne ausgekommen bist. Schlafprobleme verstärken die Niedergeschlagenheit. Das weiß ich aus Erfahrung.»
Bei diesen Worten wurde Heini lebendig.
«Was weißt du schon? Niemand kann verstehen, wie ich mich fühle!», rief sie erbost. Sie war an der Schwelle vom Schock zum Wutstadium, und in dieser Phase konnte sich die Wut gegen jeden Beliebigen richten.
«Ich weiß es.» Mehr wollte ich dazu im vollen Wartezimmer nicht sagen. Die meisten der Wartenden waren allerdings ganz auf ihr eigenes Elend konzentriert. Außer uns warteten unter anderem eine in ein Handtuch hustende alte Frau, eine erschöpft aussehende junge Russin, deren etwa einjähriges Kind wimmerte und sich die offenbar schmerzenden Ohren hielt, und ein am Kopf verletzter Säufer, der vor sich hin stierte und grunzende Laute von sich gab. Ein Wächter kam ab und zu vorbei und vergewisserte sich, dass der Mann nicht herumtobte.
«Ihr habt im Mädchenclub doch sicher die Nummer der Hilfsorganisationen für Opfer von Gewalt? Setz dich unbedingt mit denen in Verbindung, und mich kannst du auch jederzeit anrufen», sagte ich, als die hustende alte Frau, die unmittelbar vor Heini an der Reihe war, bereits eine Viertelstunde im Behandlungszimmer war. Auch ich hatte vor fünf Jahren genau gewusst, wie sich Opfer sexueller Gewalt verhalten sollen und wo sie Hilfe bekommen können, dennoch hatte ich Schmerz und Scham lange mit mir herumtragen müssen, auch wenn sie durch die Unterstützung von Schicksalsgenossinnen gemildert worden waren.
Ein paar Minuten, bevor seine Schwester aufgerufen wurde, betrat Heinis Bruder das Wartezimmer. Er war knapp dreißig und trug trotz des nahenden Wochenendes einen dunklen Anzug, makellose schwarze Schuhe und eine blaue Krawatte. Die Krawattennadel war mit einem winzigen Löwen, dem finnischen Wappen, verziert. Er schien einer ganz anderen Welt anzugehören als Heini. Die beiden umarmten sich nicht, berührten sich nicht einmal. Mir gab Kimmo Korhonen immerhin die Hand.
«Gut, dass Sie sich um Heini kümmern konnten. Die Verhandlungen haben sich hingezogen, und ich wollte meinen Geschäftspartnern nicht sagen, warum ich es eilig habe. Das geht sie schließlich nichts an. Wer hat Heini überfallen?»
«Darüber können wir gleich reden», sagte ich. Im selben Moment wurde die Nummer siebenundvierzig aufgerufen. Das war Heini.
«Soll ich mitgehen?», fragte Korhonen.
«Am besten warten Sie hier. Heini, ich gehe jetzt. Du weißt, wie du mich erreichen kannst. Dein Bruder wartet hier auf dich.»
Ich hatte bei der Anmeldung darum gebeten, dass eine Psychiatriepflegerin bei Heinis Untersuchung anwesend war. Ich wäre gern selbst dabei gewesen, doch das verstieß gegen
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