Sag mir, wo die Mädchen sind
zu Ehren gesungen wurde, stammte aus einem christlichen Jugendgesangbuch, das auch ich von früher kannte. Es war «So schön ist das Land» von Kari Rydman. Die Wahl war einleuchtend, denn auch wenn die Christen sich das Lied zu eigen gemacht hatten, war seine Botschaft doch an keine bestimmte Religion gebunden. Ich glaubte Iidas Stimme herauszuhören, ihren überraschend hellen Sopran, ebenfalls ein Erbe von Anttis Mutter. Auch Sylvia Sandelin lauschte; wir schwiegen, bis das Lied verklungen war. Bei den Worten «von uns gegangen der teuerste Freund» brachen die Stimmen der Mädchen, und ich sah, wie Sylvia Sandelins Halsschmuck zitterte, als sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Als der Gesang zu Ende war, sagte sie, sie müsse jetzt zu den Mädchen sprechen. Ich blieb an der Tür stehen. Es war mir unangenehm, dass Iidas Welt und meine Arbeit sich tangierten. Als Polizistin hatte ich mich oft als eine Art Putzfrau empfunden, die auftauchte, nachdem das Schlimmste geschehen war, die Blutflecken entfernte, das zerschlagene Geschirr aufsammelte und sich bemühte, den Schauplatz herzurichten, als sei nichts geschehen. Darüber hinaus sorgte ich dafür, dass derjenige, der das Unheil angerichtet hatte, keine weiteren Missetaten begehen konnte. Allerdings konnte ich nicht verhindern, dass bei den betroffenen Menschen Narben zurückblieben und die Erinnerungen sie für den Rest ihres Lebens quälten. Ob Iida den Mord an Noor je vergessen könnte?
Ich hörte Sylvia Sandelins tiefe, ruhige Stimme, konnte aber nicht verstehen, was sie sagte. Ich ging zurück in das Zimmer und trank meinen Tee. Im nächsten Moment kam Heini Korhonen herein, ließ sich auf den Stuhl fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Als sie die Hände nach einer Weile sinken ließ, sah ich in ihren Augen lodernden Hass. Sie nahm die Tasse mit dem bereits kalten Tee und trank, als habe sie stundenlang gedürstet.
«Ayans Verschwinden war schlimm genug, aber in ihrem Fall besteht noch die Hoffnung, dass sie am Leben ist. Für Noor können wir nichts mehr tun. Viele unserer Einwanderermädchen haben als Kinder Furchtbares erlebt. Bisher haben sie geglaubt, in Finnland wären sie sicher. Aber das sind sie eben nicht, solange sich nicht alle an die hiesigen Sitten halten.»
«Was meinst du damit?»
«Ich spreche von Noors männlichen Verwandten. Am schlimmsten ist der eine Vetter, Rahim. Er treibt sich in extremen Cliquen herum, die sich mit allen möglichen Leuten anlegen. Er ist schon ein paarmal eingebuchtet worden, weil er sich mit Skinheads und Russen geprügelt hat. Aber das weiß die Polizei natürlich.»
Davon hatte ich noch nichts gehört, obwohl der Hintergrund der Ezfahanis natürlich überprüft worden war. Vielleicht hatte derjenige, der die Überprüfung vorgenommen hatte, die Angelegenheit nicht für erwähnenswert gehalten oder keine Verbindung zwischen Bandenschlägereien und dem Mord an einer jungen Frau gesehen.
«Laut Aussage der Familie Ezfahani war Tuomas Soivio nicht Noors Freund, sondern krankhaft in sie verliebt. Noor soll ihn zurückgewiesen haben. Die Familie vermutet, dass Tuomas Soivio Noor getötet hat, aus Eifersucht, weil er sie nicht bekam.»
Heini hustete plötzlich so heftig, dass ich fürchtete, sie würde ersticken. Tränen stiegen ihr in die Augen. Schließlich stand sie auf und stürzte durch die zweite Tür des Pausenraums hinaus, vermutlich auf die Toilette. Ich hörte Würgegeräusche, dann putzte Heini sich ausgiebig die Nase und betätigte anschließend die Spülung. Sie kam zurück, setzte sich wieder hin und schien nach den richtigen Worten zu suchen. Die Wut in ihren Augen war noch flammender als zuvor.
«Sind eigentlich alle Polizisten komplette Idioten? Tuomas hat Noor nicht umgebracht. Die beiden waren ein Paar und sehr glücklich. Habt ihr Angst, dass man euch Rassismus vorwirft? Traut ihr euch deshalb nicht, Noors Angehörige zu beschuldigen, obwohl einer von ihnen der Mörder ist?», fauchte sie.
Iida hatte über Noors Freund gesagt, alle hätten es gewusst. Aussage gegen Aussage, eine Gruppe stand hinter der einen Wahrheit, die andere hinter der anderen.
«Noors beste Freundin ist eine gewisse Susa, hat man mir gesagt. Ist sie heute hier?»
«Ich weiß nicht, ob sie Noors beste Freundin war. Muss man die Menschen überhaupt in Schubladen stecken? Aber eine enge Freundin war sie schon. Susanne Jansson. Tatsächlich – ich habe sie nicht gesehen. Soll ich sie anrufen?»
«Kannst du
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