Sag niemals nie
behutsam die oberste
Schublade auf und entnahm ihr eine kleine, mit weißem Samt bezogene
Schmuckschachtel. Sie schob die Schublade zu und schlich zum Stubenwagen.
»Du kriegst ihn wieder,
versprochen«, flüsterte sie dem dick eingepackten Bündel zu, das friedlich im
Wagen lag. Sie hob das Moskitonetz und drückte Yale einen Kuss auf die weiche
rosige Wange. In ihrer Freude über ihre fette Beute bemerkte sie die winzigen
Fäustlinge an den Händen der Kleinen nicht, die verhindern sollten, dass sie
ihren von einem juckenden roten Ausschlag bedeckten Körper zerkratzte.
Normalerweise sind es ja die
jüngeren Schwestern, die den älteren Sachen aus dem Zimmer klauen, aber wie
Baby Yale bald selbst feststellen würde, war Blair nun mal keine normale ältere
Schwester.
und
jetzt zu den kleinen schwestern anderer leute...
Die Lower East Side war einer
dieser glücklichen New Yorker Stadtteile, die schon seit jeher cool gewesen
waren, aber gleichzeitig abgelegen und kaputt genug, um von der Invasion durch
Touristen und Starbucks verschont zu bleiben und dem Schicksal des
Meatpacking-Distrikts zu entrinnen, zum angesagten Trend-Viertel ernannt zu werden.
Vor dem »Funktion«, dem Club in der Orchard Street, in dem die Raves auftraten,
wartete bereits eine lange Schlange Mädels in Haltertops und Mini-Faltenröcken
und Typen in Jeans und Polohemden mit hochgeklappten Kragen.
Jenny fasste Elise am Ellbogen
und schnurrte innerlich vor Selbstzufriedenheit, weil es ja wohl voll genial
war, sich nicht wie die anderen hinten anstellen und bangen zu müssen, ob der
Türsteher so gnädig wäre, sie reinzulassen. Sie nannte ihm ihren Namen, das
Samtseil wurde ausgehakt und sie gingen hinein.
Ta-daa! Instant-VIP-Faktor.
Im Inneren war das »Funktion«
kleiner, als Jenny es sich vorgestellt hatte, und wirkte alt, obwohl es gerade
erst neu aufgemacht hatte. Der Boden war schwarz und die Betonwände waren rot
gestrichen. Es war schon ziemlich voll, und statt an den Tischchen mit dem
schwarz-weißen Schachbrettmuster zu sitzen, drängelten sich die Konzertgäste
mit Bierflaschen in der Hand vor der Bühne. Das ultimative Highlight des Clubs
war die Stahlstange der ehemaligen Feuerwache, die durch eine runde Öffnung in
der Decke das obere Stockwerk mit dem Erdgeschoss verband. Daran auf die Bühne
herunterzurutschen, war ein ziemlich furioser Auftritt.
Jenny haderte mit sich. Sollte
sie sich an die Bar vorwagen und dort etwas Alkoholisches bestellen, oder
hatten sie bessere Chancen, etwas zu bekommen, wenn sie sich an einen Tisch
setzten und lässig gelangweilt guckten, bis die Bedienung kam? Vielleicht
mussten sie ja auch gar nichts trinken. Jedes weibliche Wesen über neun und unter
neunundzwanzig war in die Raves verknallt. Mit der Band in einem Raum zu sein -
live war schon berauschend genug.
Sie zupfte Elise am Träger
ihrer schwarzen Paillettentasche von Banana Republic und zog sie in den
hinteren Bereich des Clubs, wo sie sich hinsetzen und darauf konzentrieren
konnten, so betrunken und angeödet auszusehen wie die Models auf den
Paparazzi-Fotos vorne im New York Magazine.
Der Drummer und der Bassist der
Raves machten sich auf der Bühne an ihren Instrumenten zu schaffen und checkten
den Sound.
»A, B, C, D, E, F, G...«, sang der Schlagzeuger mit geschlossenen
Augen und einer Miene, als wäre es der herzzerreißendste Song aller Zeiten, in
sein Mikro.
»Komm mit mir ins Separee.«
»Der ist süß!«, flüsterte Jenny
Elise ins Ohr.
»Wer?« Elise schaute skeptisch
auf die Bühne. »Der
Schlagzeuger? Aber der ist doch
mindestens schon fünfundzwanzig!«
Na und?
»Na und?«, sagte Jenny. »Sind
die nicht alle fünfundzwanzig?«
»Aber er hat eine Latzhose an.«
Elise zog angewidert die sommersprossige Nase kraus. »Der Gitarrist, wie heißt
der noch mal? ... Dämon... nein, Damian... der, mit dem Serena jetzt zusammen ist - der ist der
Süße! Der hat Sommersprossen wie ich und einen voll niedlichen Akzent!«,
schwärmte sie. »Und außerdem hast du wohl deinen Bruder vergessen, der ist
nicht fünfundzwanzig.«
Jenny verdrehte die Augen. Es
stimmte zwar, dass der Schlagzeuger eine weiße Malerlatzhose, ein rosa-giftgrün
gestreiftes Poloshirt und brandneue weiße Tretorn-Tennisschuhe anhatte und für
jemanden, der dafür berühmt war, während der Auftritte seine Schlagzeugstöcke
an der Stirn zu zerschlagen, merkwürdig brav aussah. Aber gerade das machte
seinen Reiz aus, den Reiz der gesamten Band.
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