Sag niemals nie
entspannte Stimmung zu erhalten. „Hast du Geschwister?“
Angelo hielt inne und rührte sich nicht. „Nein. Nicht dass ich wüsste, höchstens … so etwas Ähnliches wie eine Schwester.“
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. So gesprächig war er sonst nie. Was war nur mit ihm los? Dabei hatte er das verrückte Aushorchspiel aus rein taktischen Gründen begonnen.
„Angelo?“
Anna stand etwas abseits, und er wandte sich ihr zu. Im schwachen Licht wirkten ihre Züge besorgt. „Erzähl mir …“
„Da gibt es nichts zu erzählen“, unterbrach er sie schroff und nahm eine Packung duftendes Brot und einen Behälter mit eingelegten Artischockenherzen, Tomaten und Oliven aus dem Korb. „Ich weiß nicht, wer meine Eltern sind. Als ich nur wenige Stunden alt war, hat man mich in einem Kloster in Südfrankreich abgegeben. Von dort wurde ich in ein Findlingsheim in Mailand gebracht. Sie tauften mich Angelo, weil ich blond war – wie ein Engel“, setzte er in bitterem Ton hinzu. „Und sie gaben mir den Nachnamen Emiliani, weil St. Jerome Emiliani der Schutzpatron verlassener Kinder ist.“
Angelos Enthüllungen folgte Schweigen. Nur das Rauschen des Meeres erfüllte die Stille.
„Du hast keine Ahnung, wer deine Eltern waren?“, flüsterte Anna.
Er zögerte und dachte an den mit Rubinen und Diamanten besetzten Ohrring, den er in einem Schließfach verwahrte. Ein Sachverständiger hatte ihm versichert, das Schmuckstück sei ein Einzelstück und 1922 bei dem bekannten Juwelier Cartier angefertigt worden. Damit hätte man den Namen des Erstkäufers ermitteln können, doch es war ihm nicht gelungen. Folglich musste seine Mutter eine wohlhabende Adlige sein, die den Familiennamen höher schätzte als das Wohl ihres Kindes – oder eine Diebin. Letzteres wäre Angelo lieber gewesen.
„Nein, ich weiß nicht, wer meine Eltern waren. Ich war in einen wertvollen Schal gewickelt, in dem sich ein sehr teures Schmuckstück befand. Also vermute ich, dass meine Muter nicht gerade arm war“, antwortete er verächtlich. „Sicher stammte sie aus Kreisen, in denen ein uneheliches Kind sie um ihr Ansehen in der sogenannten besseren Gesellschaft gebracht hätte.“
Er wartete darauf, dass Anna sagte, was sie alle sagten. Dumme, nichtssagende Worte wie „tut mir leid“. Er würde sich ein Lächeln abringen und sagen: Schon gut.
Doch sie schwieg.
„Kinder haben es schwer“, flüsterte sie endlich. „Als Erwachsene vergessen wir, wie schrecklich es sein kann, hilflos und allein den Gegebenheiten ausgeliefert zu sein. Dingen, die man nicht beeinflussen kann.“
„Hattest du eine schlimme Kindheit?“
„Nein. Nein.“
„Aber?“
„Aber … nichts. Du sagtest, du hättest so etwas Ähnliches wie eine Schwester. War sie ein Kind aus dem Waisenhaus?“
Angelo ärgerte sich über sich selbst. Warum, zum Teufel, hatte er davon gesprochen? In den letzten zwölf Jahren hatte er Lucia niemandem gegenüber erwähnt. Doch sie jetzt zu verschweigen, wäre einem Verrat gleichgekommen.
„Ja“, verriet er schroff. „Ein kleines Mädchen … Lucia.“ Anna erwiderte nichts. Sie wartete einfach darauf, dass er weitersprach.
Warum konnte sie es ihm nicht leichter machen und zu nichtssagendem Geplauder überwechseln wie andere Frauen? Angelo atmete tief ein.
„Natürlich war sie nicht wirklich meine Schwester, aber sie hing sehr an mir. Ich war damals sechzehn. Sie wollte meine Schwester sein. Sie flehte mich an, sie mitzunehmen, wenn ich alt genug wäre, das Waisenhaus zu verlassen. Das habe ich ihr versprochen. Darum habe ich angefangen, Geld zu verdienen. Um sie dort rauszuholen.“
Unwillkürlich hatte Angelo die Hände zu Fäusten geballt. Er blickte auf und sah, dass Annas Augen verräterisch schimmerten. Auch er war den Tränen nahe. Rasch stand er auf, hob einen Kieselstein auf und schleuderte ihn in die heranflutenden Wellen.
„Was soll’s. Lucia ist tot. Eines Nachts hatte sie einen schweren Asthmaanfall. Ich war nicht da, und niemand hörte sie. Sie war erst drei.“
Einen Moment lang stand er angespannt da, dann setzte er sich wieder zu Anna und lächelte grimmig. „So, und jetzt eine Frage: Was isst du lieber? Erdbeeren oder Weintrauben?“
Wohlig seufzend streckte Anna sich auf der Decke aus, wäh
rend Angelo die Picknicksachen im Korb verstaute.
Wie gerne sie jetzt die Zeit anhalten würde!
Gemeinsam hatten sie geschlemmt, sich gegenseitig gefüttert, bis noch ein paar Erdbeeren übrig
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