Sag niemals nie
Es gab keinen Grund, dorthin zurückzukehren. Sie hatte nichts zurückgelassen, nur ihr Herz, und das gehörte Angelo.
Wenige Meter von ihrem Schlafplatz entfernt ging der weiche weiße Strand in festeren, überspülten Boden über. Spontan schlenderte Anna ans Ufer, hob eine Muschel auf und schrieb Angelo eine Nachricht in den Sand. Tränen rannen ihr über die Wangen und tropften auf den Boden, wo sie keine Spur hinterließen.
Von ihren Gefühlen überwältigt, kehrte sie doch noch einmal zu Angelo zurück und betrachtete ihn. Wie jung er aussah! Sein blondes Haar war zerzaust, die langen Wimpern überschatteten seine Wangen. So musste er als einsamer kleiner Junge im Waisenhaus ausgesehen haben …
Anna atmete tief ein und unterdrückte ein Schluchzen, dann stolperte sie über den Sand davon.
Auf der Düne blieb sie stehen und blickte zurück. Tränen nahmen ihr die Sicht.
Die Insel war klein. Anna wusste, dass sie bis zum winzigen Fährhafen nicht weit zu laufen hatte. Früher war sie ausschließlich von Mönchen bewohnt gewesen. Diese lebten seit dem fünften Jahrhundert hier. Sie empfand keine Angst, am frühen Morgen allein durch die schattigen Pinienwälder zu laufen.
Genaugenommen empfand sie gar nichts. Sie konzentrierte sich einfach darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Und sie überlegte sich, was sie als Nächstes tun würde. Ankunft in Cannes. Rückkehr zum Camp von GreenPlanet, um ihre wenigen Sachen abzuholen. Mit dem Bus nach Nizza. Flug nach Hause.
Die Gefühle mussten warten.
Unvermittelt erwachte Angelo und richtete sich auf.
Im klaren Morgenlicht lag der Strand verlassen da. Der Platz neben ihm war kalt. Anna war gegangen!
Rasch streifte Angelo sich die Boxershorts über und sah sich um. Etwas entfernt entdeckte er sein T-Shirt. Anna hatte es dorthin geworfen. Aber wo mochte seine Jeans sein? Er stand auf und bemerkte die Schrift im Sand.
DANKE
Wütend schüttelte er den Kopf. Dieses kaltherzige Biest! Sie hatte seine Sachen mitgenommen und ihn in der Nacht verlassen. „Danke“ war alles, was von ihr geblieben war! Die Muschel, mit der sie geschrieben hatte, lag im Sand, wo Anna sie fallen gelassen hatte. Daneben befanden sich ihre Fußabdrücke.
Außer sich vor Zorn und Enttäuschung hob Angelo die Muschel auf und schleuderte sie über den Strand.
Dann wurde er nachdenklich. Er hatte so tief geschlafen wie seit Jahren nicht mehr. Aber er hatte seine goldene Regel gebrochen, und jetzt musste er dafür bezahlen.
Er hatte sich verletzlich gezeigt, und Anna hatte seine Schwäche ausgenutzt.
Biest.
In einer knappen halben Stunde hatte Anna den kleinen Fährhafen erreicht. Als sie dort ankam, war sie erschöpft. Es hatte sie ihre ganze Willenskraft gekostet, nicht an Angelo zu denken. Sie versuchte, den Tag, der vor ihr lag, zu planen, doch immer wieder kam ihr das Bild des friedlich schlummernden Angelo in den Sinn.
Ihre nackten Füße waren nach dem Marsch über die unbefestigten Inselwege wund gelaufen und von Piniennadeln zerstochen. Sie spürte es nicht. Doch als sie feststellte, dass die erste Fähre zum Festland nicht vor Mittag ging, war sie erneut den Tränen nahe. Bei der Vorstellung, Angelo könnte ihr nachkommen und sie zur Rede stellen, stieg Panik in ihr auf. Aber der Gedanke, dass er nicht käme, um nach ihr zu suchen, war noch schlimmer.
Schließlich beendeten zwei Mönche ihre Qualen. Auf der Ladefläche ihres klapprigen Lieferwagens befanden sich im Kloster hergestellter Wein und Honig. Beides wollten sie mit dem Boot ans Festland bringen und dort verkaufen. Als sie Anna in ihrer seltsamen Kleidung und dem tränenüberströmten Gesicht sahen, erklärten sie sich ohne zu zögern bereit, sie mitzunehmen.
„Vous sentez bien, ma petite?“, fragte einer der beiden sie mitfühlend, und sein freundliches Gesicht machte ihr Mut.
„Ja“, erwiderte sie zuversichtlich. „Es geht mir gut.“
Die anschließende Busfahrt die Küstenstraße entlang zum Château war weniger angenehm. Die sommerlich frisch gekleideten Touristen im Fahrzeug musterten Anna in ihrem befremdlichen Aufzug neugierig. Sie war erleichtert, als sie vor den Schlosstoren aussteigen und dem Getuschel entkommen konnte.
Im Camp von GreenPlanet schlief alles noch. Geräuschlos öffnete Anna den Reißverschluss ihres Zelts. Ihre Sachen lagen alle an ihrem Platz. Jemand hatte Fliss’ Kleid vom Strand mit heraufgebracht und auf ihren Rucksack gelegt. Auch die kleine indische Tasche war da. Anna
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