Sag niemals nie
wühlte sie durch und fand ihr Handy.
Im Halbdunkel des Zelts überprüfte sie die Anzeige.
Sie hatte zweiundvierzig Anrufe verpasst.
Zwei waren von Fliss, die meisten anderen kamen von Leuten, die mit dem Verkauf von Belle-Eden zu tun hatten. Anna hörte ihren Anrufbeantworter ab.
Der anfangs sachliche Ton verschiedener Sekretärinnen wurde von Mal zu Mal beschwörender. Schließlich riefen die Anwälte selbst an und am Ende sogar Monsieur Ducasse persönlich. Der Käufer dränge auf Vertragsunterzeichnung, betonte er in seinem makellosen Englisch.
Natürlich, dachte Anna niedergeschlagen. Angelo brannte darauf, die Papiere zu unterschreiben. Er wollte den Kauf unter Dach und Fach haben, solange er sie auf der Yacht festhielt.
Seinen letzten Versuch, sie zu erreichen, hatte Ducasse gestern um sechs Uhr nachmittags gemacht. Er hatte gewarnt, der Verkauf könne platzen, wenn sie sich nicht bis vormittags um zehn Uhr meldete. Das musste Angelos letzter Versuch sein, da er gewusst hatte, dass sie heute Morgen zurück sein würde.
Anna blickte auf die Uhr. Gleich neun.
Eiligst kramte sie den Rucksack nach sauberen Sachen durch und stöhnte. Ihr fiel ein, dass sie das einzige geeignete Kleid in Fliss’ Hotelzimmer gelassen hatte. Nichts von ihren anderen Sachen kam für den Besuch in der Anwaltskanzlei infrage. Habe ich mich in zwei Tagen so sehr verändert?, fragte Anna sich. Sie zog einen langen Stufenrock im Zigeunerinnenlook und ein weißes Top heraus. Sie kam sich vor, als würde sie sich verkleiden, in ein Kostüm für eine Theaterrolle schlüpfen.
Vor dem Zelt hörte sie verschlafene Stimmen. Die anderen wachten jetzt langsam auf. Nach einem letzten Blick in die Runde nahm Anna den Rucksack auf und begann, zur Straße zu laufen.
Sie kam nicht weit, jemand rief ihr etwas zu.
„Anna! Da bist du ja wieder! Wo warst du?“
„Hallo, Gavin!“ Müde lächelnd setzte sie den Rucksack ab.
„Das ist eine lange Geschichte.“
„Na gut, aber hör dir erst mal meine an. Ich habe herausgefunden, was dieser Signor Emiliani mit Belle-Eden vorhat. Die gute Nachricht vorweg: Ich bin fast sicher, dass wir ihn stoppen können. Er will daraus ein Forschungszentrum für Atemwegserkrankungen bei Kindern machen – Asthma, Tuberkulose und so was. Deshalb ist dieser Arzneimittelhersteller Grafton-Tarrant mit im Spiel. Wir sind ziemlich sicher, dass es auch Unterkünfte für die kranken Kinder geben wird. Sobald wir das Stichwort Tuberkulose loslassen, haben wir gesiegt. Dann haben die Bewohner in der Umgebung so viel Angst vor Ansteckung, dass …“
„Nein.“
„Es ist fast zu leicht. Wir brauchen nicht mal die Verstöße gegen den Artenschutz rauszukramen, in die Grafton-Tarrant verwickelt ist …“
„Nein, Gavin. Ich unterschreibe die Papiere. Noch heute.“
„Was?“ Gavin traute seinen Ohren nicht. „Und was ist mit dem Pinienwald … der Landebahn … Was ist mit Belle-Eden, das weitgehend abgerissen und zu einer Klinik umgebaut werden soll?“
Entschlossen sah Anna ihn an. „Tut mir leid, Gavin. Das Château Belle-Eden ist nur ein Gebäude … ein leer stehendes altes Anwesen mit vielen Erinnerungen und Geistern. Höchste Zeit, dass es für einen guten Zweck genutzt wird. Ein Forschungszentrum für Atemwegserkrankungen bei Kindern halte ich für eine wunderbare Idee. Dafür verkaufe ich es. Sei nicht enttäuscht, ich weiß, wie hart du dich ins Zeug gelegt hast.“
Ohne Brille wirkten Gavins kurzsichtige Augen richtig nackt. Bebend fuhr er sich über das verfilzte Haar. „Warum tust du das, Anna?“
Sie nahm den Rucksack wieder auf. „Weil Gebäude keinen Schutz brauchen. Im Gegensatz zu Menschen.“
„Meine Güte!“ Fassungslos schüttelte er den Kopf, und seine Stimme klang jetzt kalt. „Du hast dich verändert.“
„Ich weiß.“ Traurig lächelte sie ihm zu. „Leb wohl, Gavin.“
Kurz vor der Straße nahm Anna ihr Handy heraus und wählte. „Monsieur Ducasse? Hier Roseanna Delafield. Ich bin auf dem Weg nach Nizza, um den Vertrag zu unterzeichnen.“
Sie steckte das Handy wieder in den Rucksack und drehte sich um. Über den Bäumen konnte sie die Spitze eines Schlossturms von Belle-Eden gerade noch ausmachen.
„Adieu“, flüsterte sie, und eine Träne rann ihr über die Wange. Dann ging sie weiter. Sie weinte nicht über den Verlust des Schlosses. Sie weinte über den Verlust von Angelo.
Am späten Nachmittag erschien Angelo in Nizza in der Kanzlei der Anwälte des Marquess of
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