Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
schwerwiegende körperliche und psychische Folgen. Von ihr Befallene litten immer wieder an starken Kopfschmerzen sowie ganz allgemein an Schwäche und an schmerzhafter Arthritis. Um letztere zu bekämpfen, griff Gaudí zum Fliegenpilz.«
»Entschuldigung«, fiel ihm Munárriz ins Wort, »soweit ich weiß, ist der giftig.«
»Ja, aber das Gift mit Namen Muscarin ist nicht tödlich. Manche Völker nutzen es für therapeutische Zwecke, doch ist die Naturmedizin davon abgekommen, da sich das als gefährlich erwiesen hat.«
»Und wie hat man es verwendet?«
»Die Landbewohner haben die Pilze an der Sonne getrocknet und zu Pulver zerstampft, das sie schnupften, um die Symptome verschiedener Krankheiten zu lindern.«
»Und das hat gewirkt?«
»Aber ja«, erklärte Grau. »Der Pilz enthält psychotrope Substanzen, die ein Gefühl der Erleichterung hervorrufen.«
Nach kurzem Schweigen sagte Munárriz: »Glauben Sie, dass sich diese halluzinogenen Substanzen auf Gaudís Arbeit ausgewirkt haben? Das wäre doch eine denkbare Erklärung für seine manchmal überdreht anmutende Architektur.«
Grau nickte. »In der Antike hat man den Fliegenpilz wie auch andere halluzinogene Pilze für magische Zwecke verwendet …«
»Und das war ihm vermutlich bekannt?«
Grau zuckte die Achseln. »Er hatte viel gelesen, daher darf man diese Möglichkeit nicht ausschließen. Wie Sie aber bereits gesehen haben, war er mit allen Geheimnissen der Alchemie bis in die letzten Feinheiten vertraut. Ein neapolitanischer Alchemist des 16. Jahrhunderts namens Giambattista della Porta, der die Academia secretorum naturae begründet hat, eine Gesellschaft zur Erforschung der Natur, hat verschiedene Methoden zur Herstellung halluzinogener Drogen beschrieben. Er erklärte, die Struktur des Gehirns beschränke die Entfaltung des menschlichen Intellekts, und uns unbekannte Welten ließen sich ausschließlich mittels bewusstseinserweiternder Stoffe erkunden. Im alten Ägypten benutzte man den Fliegenpilz, um mit anderen Welten und höherstehenden Wesen Verbindung aufzunehmen. Dem amerikanischen Parapsychologen Andrija Puharich zufolge haben die Ägypter unter Verwendung von Schwefel und des im Fliegenpilz enthaltenen Muscarins eine Salbe hergestellt, mit der sie die Haut und die Stirn zwischen den Augen bestrichen. Dort liegt der Sitz des Bewusstseins, das anja chakra , das Symbol des laksana , des besonderen Kennzeichens der höheren Wesen, kurz gesagt, des dritten Auges.«
»Eine Droge, wie sie auch die Mystiker verwendet haben.«
»Einige frühe Sekten, so zum Beispiel die Assassinen, regten ihren Geist gleichfalls mit Drogen an. Ihr Begründer, Hassan-i-Sabbah, der auch Scheich al-Dschabal genannt wird, der Alte vom Berge, führte seine Anhänger mit Haschisch in ein künstliches Paradies, von dem er sagte, sie würden auch in Wirklichkeit dorthin gelangen, falls sie im Heiligen Krieg, im Dschihad, umkamen. Da die Tempelritter Kontakte mit den Assassinen unterhielten, haben sie von ihnen möglicherweise den Gebrauch gewisser Drogen gelernt. Doch um auf Gaudí zurückzukommen, so ist sicher, dass ihn am Tag seines Unfalls niemand erkannte. Bei der Aufnahme im Krankenhaus Santa Cruz hat man in seiner Krankenakte den Vermerk ›betrunken‹ eingetragen. Er trank aber nicht, wohl aber bewirkte die Droge eine Erweiterung der Pupillen, ganz wie übermäßiger Alkoholgenuss.«
»Und was sagen die Vertreter der ›reinen Lehre‹ zu dem geheimnisvollen Pilz im Park Güell?«, erkundigte sich Munárriz unvermittelt.
»Wie man sich denken kann«, gab Grau zur Antwort, »halten sie diese Auslegung für ein Lügengespinst. Ihrer Ansicht nach befindet sich der Fliegenpilz dort als ästhetische Verbeugung vor Engelbert Humperdinck.«
»Wieso das?«, fragte Munárriz, der den Zusammenhang nicht verstand.
»Nun ja, Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel war 1901 in Barcelona nach ihrer Premiere Stadtgespräch. Da die Arbeiten am Park Güell zu eben jener Zeit begonnen hatten, behaupten die Vertreter der ›reinen Lehre‹, da Gaudí die Oper ausnehmend gut gefallen hatte, seien die ›Hexenhäuschen‹ links und rechts des Haupteingangs gleichsam eine Verneigung vor dem Komponisten. Er habe damit einfach auf die beiden Häuschen anspielen wollen, an welche die Geschwister bei ihrem Umherirren im Wald gelangen. Allerdings entgeht ihnen bei dieser Auslegung eine ganz entscheidende Einzelheit: Bevor sich die beiden im Wald schlafen legen, sagen sie ihr
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