Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
die Mittelszene, die Geburt Christi. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass es dieselbe Zypresse war wie die auf dem Foto in seiner Hand. Höchstwahrscheinlich bezog sich zumindest ein Teil der Fotos und Zeichnungen aus dem Umschlag, den die Restauratorin im Schließfach der Nationalbibliothek deponiert hatte, auf Gaudís Werk, doch diese Annahme zu erhärten war ihm unmöglich, da es sich um Nahaufnahmen von Details handelte. Von den übrigen Bildern ahnte er nicht, wozu sie gehörten. Er musste unbedingt einen Fachmann zu Rate ziehen, der mit Gaudís Gedankenwelt ebenso vertraut war wie mit dessen wuchernder und nahezu futuristischer Architektur. Er selbst wusste nicht, an wen man sich da wenden sollte, aber unter Umständen konnte ihm Mabel bei der Suche nach einem solchen Spezialisten behilflich sein. Er nahm sein Telefon heraus und rief sie an.
»Kannst du mich hören?«, fragte er. Er verstand kaum, was sie sagte, und hob die Stimme, um den Verkehrslärm um sich herum zu übertönen.
»Ja, Schatz.«
»Wo bist du?«
»Auf der Uferstraße nahe dem Olympiahafen auf dem Weg zum Strand von Bogatell.«
»Telefonierst du etwa vom Auto aus?«, erkundigte er sich, weil ihm bekannt war, dass sie dazu neigte, es mit Vorschriften nicht übermäßig genau zu nehmen.
»Ich sitze zwar in einem Auto«, erklärte sie, »und falle deswegen manchmal in ein Funkloch, aber am Steuer sitzt Pascual Arrese, du weißt schon, unser Fotograf.«
Munárriz kannte ihn. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«
»Die Belohnung dafür werde ich gleich heute Abend einfordern …«
»Ich muss unbedingt mit einem erstklassigen Gaudí-Spezialisten reden. Kennst du da jemanden?«
»Nein. Aber ich frag mal unseren Kunstredakteur Nicolás Fraile. Der kann dir sicher den Besten auf dem Gebiet nennen.«
»Danke«, schrie er förmlich, damit sie es auch hören konnte. »Aber bitte so schnell es geht.«
»Keine Sorge. Wo bist du eigentlich?«
»An der Sagrada Familia . Zumindest eins von den Fotos, nämlich das mit der Zypresse und dem Kreuz darüber, bezieht sich eindeutig auf die Kathedrale.«
»Und die anderen?«
»Genau deshalb muss ich mit jemandem reden, der Gaudís Werk in- und auswendig kennt«, sagte er.
»Lass mich nur machen.«
»Was willst du eigentlich am Strand von Bogatell?«
»Da ist eine Leiche angetrieben worden …«
»Grüß sie von mir«, scherzte er.
»Sehr witzig. Sehen wir uns zu Mittag? Ich hab ein paar Stunden frei.«
»Zu Mittag? Gern. Nichts lieber als das.«
Vom Geländer der Uferstraße in Bogatell aus machte Pascual Arrese mehrere Fotos von dem Strandabschnitt, auf dem rund hundert Meter vom Wellenbrecher entfernt eine männliche Leiche lag. In seinen vierzig Berufsjahren als Pressefotograf hatte er Hunderte von Menschen fotografiert, die Verkehrs- oder Arbeitsunfällen, Kriegen, Beziehungsmorden, Vergewaltigungen, satanistischen Riten, Naturkatastrophen oder Abrechnungen von Verbrecherbanden zum Opfer gefallen waren. Auch der Mann, den er jetzt im Sucher seiner Canon 5 D hatte, war für ihn lediglich einer aus der großen Zahl der Namenlosen, mit denen ihn sein Beruf in Berührung brachte. Er trat einige Schritte beiseite, um einen anderen Blickwinkel zu bekommen, und zoomte auf den Mann. Dann rief Mabel ihm zu, er solle näher herangehen.
Ihre Füße versanken tief im Sand, als sie sich daranmachten, den Toten genauer in Augenschein zu nehmen. Der Strand von Bogatell gehörte zu den achtzehn Hektar Strand, die Barcelona für die Olympischen Spiele 1992 neu angelegt hatte und die alle über die Uferstraße miteinander in Verbindung standen. Während sie im Sommer buchstäblich schwarz von Menschen waren, lagen sie an kalten Herbst- und Wintertagen verlassen da. Nur hier und da sah man einen Spaziergänger oder Jogger.
Als sie sich dem Toten bis auf wenige Schritte genähert hatten, hinderten zwei uniformierte Polizeibeamte sie daran weiterzugehen, ganz wie all die von der Anwesenheit der Polizei angelockten Gaffer. Nachdem Mabel ihren Presseausweis vorgezeigt hatte, wurde sie an einen dritten Beamten verwiesen, der die Untersuchung zu leiten schien. Um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen, verbarg Pascual Arrese seine Kamera, so gut es ging. Nicht auffallen hieß eins der Zehn Gebote des Bildberichterstatters.
» Wer sind Sie ?«, erkundigte sich der Polizeibeamte.
»Mabel Santamaría von La Vanguardia «, gab sie zur Antwort, wobei sie ihm ihren Presseausweis hinhielt. »Und
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