Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
und den verborgensten Geheimnissen des tibetischen Buddhismus vertraut war und die harten Prüfungen der Initiation über sich hatte ergehen lassen. Die ungewöhnlichste und härteste von allen, hieß es, verleiht jedem, der sie besteht, ein drittes Auge, mit dem er in den Geist der Menschen einzudringen und in Raum und Zeit zu blicken vermag … All das habe ich geglaubt – bis ich hinter den Betrug kam.«
»Was für ein Betrug?«
»Zwei Jahre, nachdem 1956 Das dritte Auge in England erschienen war«, erklärte Mabel, und ihre tiefe Enttäuschung war ihr anzuhören, »sind Journalisten der Londoner Times dahintergekommen, dass der angebliche Dr. Tuesday Lobsang Rampa niemand anderes war als ein gewisser Cyril Henry Hoskins aus der Grafschaft Devonshire. Zu allem Überfluss hatte dieser Sohn eines Londoner Klempners noch nie im Leben einen Fuß auf den Boden Tibets gesetzt.«
»Stimmt das auch?«
»Ich fürchte ja. Noch im selben Jahr, also 1958, hat er sich nach Irland abgesetzt, um sich dem Zugriff des englischen Fiskus zu entziehen. Später ist er nach Kanada ausgewandert, 1973 kanadischer Staatsbürger geworden und im Januar 1981 in einem Krankenhaus von Calgary im Staat Alberta an einem Herzinfarkt gestorben. Kurz, der angebliche Lobsang Rampa, der sein Gelübde gebrochen und der Welt die Geheimnisse der mystischen Initiation offengelegt hatte, war nie in Tibet gewesen und hatte nie das Gewand eines buddhistischen Mönchs getragen. Bei deinem Fulcanelli kann es sich ganz ähnlich verhalten. Ernst nehmen darf man eigentlich nur Druckwerke mit naturwissenschaftlichem Anspruch.«
»Ich habe aber nichts anderes«, gab Munárriz zurück. »Ich werde versuchen, den Schleier zu lüften, um zu sehen, was sich darunter verbirgt.«
»Das ist Zeitverschwendung.«
»Und was würdest du an meiner Stelle tun?«
»Im Umkreis der Ermordeten suchen. Das Tatmotiv könnte doch auch Eifersucht gewesen sein, oder sie hatte sich geweigert, Forderungen nachzugeben, sei es auf sexuellem oder auf einem anderen Gebiet. Vielleicht wollte jemand auf diese Weise eine alte Rechnung begleichen – was weiß ich …«
»Vergiss nicht, dass es keinerlei Hinweise auf Gewalteinwirkung gegeben hat«, rief ihr Munárriz in Erinnerung. »Außerdem war sie unmittelbar vor ihrem Tod mehrere Tage verschwunden, ohne dass jemand gewusst hätte, wohin. Sie hat einen Geistlichen aufgesucht, der Fachmann auf dem Gebiet der Symbollehre ist, und ist mit ihm zu einer Wallfahrtskapelle voller mystischer Geheimnisse gefahren. Anschließend war sie in Madrid, um in der Nationalbibliothek alchemistische Bücher einzusehen. Von dort aus hat sie ihrem Verlobten den Schlüssel zu dem Schließfach geschickt …«
»Nehmen wir von mir aus an«, gab sie nach, »dass jemand sie umgebracht hat, damit das Geheimnis der Element-Umwandlung, des Elixiers der ewigen Jugend und der Quintessenz bewahrt bleibt … Bist du wirklich bereit, das so zu sehen?« Er nickte, obwohl er selbst nicht recht überzeugt war. »In dem Fall lauten die Schlüsselfragen: Wer war der Täter? Welcher Irrsinnige glaubt an solchen Krampf? Und was für Interessen stecken dahinter?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er nachdenklich. »Ich sehe kein Licht am Ende des Tunnels.«
»Ich auch nicht«, pflichtete ihm Mabel bei und nahm einen kräftigen Schluck Wein.
6
N ur auf einem der vielen Fotos gab es etwas, was ihm bekannt vorkam: die mit dem T-förmigen Kreuz bekrönte steinerne Zypresse, an deren Spitze wie auch auf einigen Zweigen weiße Tauben saßen. Besonders ungewöhnlich erschienen ihm die beiden Leitern, die am Stamm des Baumes lehnten. Er verließ die U-Bahnstation Sagrada Familia durch den Ausgang an der Avenida Gaudí, überquerte die Calle de Provença und ging durch die Calle de Marina südwärts bis zur Plaza de Gaudí. Touristenschwärme drängten sich in der kleinen Parkanlage, andere umstanden in Trauben ihre Busse, die sie von einer Pflichtbesichtigung zur nächsten brachten.
Ganz wie die Touristen hob er den Blick und betrachtete angespannt die Geburtsfassade, die Gaudí dem Leben Jesu gewidmet hatte. Wie ein Mysterienspiel zeigten ihre hyperrealistischen und zugleich schlichten Szenen die Flucht nach Ägypten, den im Tempel lehrenden zwölfjährigen Jesus und die Weissagung Johannes des Täufers. Die Vielzahl der unter kleinen Vordächern in Nischen stehenden Figuren verteilte sich links und rechts zweier großer Fenster. Eine hoch aufragende Zypresse beherrschte
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