Sally
Verstrebungen des einfachen Holzstuhls verklemmt.
»Herr Wagerl, um Gottes Willen, was machen Sie denn für Sachen? Wieso sind Sie nicht im Bett?«, rief ich.
»Ich wusste ja nicht, ob Sie noch kommen, Mädchen«, sagte er. »Ich habe Hunger, auch wenn ich nicht mehr laufen kann.«
Sanft zog ich seinen zerbrechlichen Fuß zwischen den engen Holzstäben hervor. Er verzog das Gesicht.
Mit den Jahren war mir der alte Mann ans Herz gewachsen. Deshalb hatte ich weiter für ihn gearbeitet, als ich alle anderen Klienten aufgegeben hatte. Er gab mir das Gefühl, gebraucht zu werden. Seine Frau war vor zehn Jahren gestorben. In letzter Zeit hatte er sich zu einem Pflegefall entwickelt. Ich kochte für ihn, machte sein Bett, wusch ihn, legte ihn hin und neuerdings wechselte ich auch seine Windeln. Ich wusch sein Gesäß und trocknete seinen verwelkten kleinen Penis ab. Er sagte dann: »Kannst gerne ein bisschen länger rubbeln, Mädchen.«
Wenn ich ihn nach seinem beschwerlichen Gang zur Toilette zurück ins Bett hob, hatte ich manchmal das Gefühl, die Last der Welt hinge an meinen Schultern. Auch so ein mageres Wesen wog schwer in all seiner Passivität.
6
DEZEMBER 2008. Die Kinder wurden immer mehr zu einem Spiegel meiner Seele. Ich hatte schon an der Uni in der Theorie gelernt, dass Kinder die Probleme ihrer Eltern genau spüren und widerspiegeln, und jetzt machte ich diese Erfahrung in der Praxis. Anke und Georg wurden immer launischer. Sie stritten und waren frech zu mir. Wegen jeder Kleinigkeit quengelten sie. Ganz wie ihr Vater. Oder war ich doch selbst schuld an der schlechten Stimmung? Ich fürchtete mich vor dem nahenden Advent. Wir würden dieses Jahr nicht viel zu lachen haben. Immerhin waren wir damit nicht alleine. Die Prognosen für das kommende Jahr waren pechschwarz. Experten sagten einen dramatischen Rückgang des Bruttoinlandprodukts voraus. Die schlimmste Krise seit der großen Depression in den Dreißigerjahren drohte. Auch der Konjunkturgipfel in Deutschland hatte keine Lösung und kaum Hoffnung gebracht. Mario war inzwischen jeder Weihnachtsstern zu teuer. Neuerdings ließ er die Kinder vor dem Verlassen des Hauses sogar möglichst viel Wasser trinken, damit sie später keine Limonade wollten.
Wo blieb Mario bloß?
Langsam wurde ich nervös. Wenn er nicht gleich kam, würde ich ihn eigenhändig heimholen. Er musste auf die Kinder aufpassen. In anderthalb Stunden würde ich gemeinsam mit Anton Linnerth zum wöchentlichen Infoabend fahren. Als wir vergangene Woche zum ersten Mal als Duo aufgetreten waren, hatte ich mich seit Langem wieder einmal wohl in meiner Haut gefühlt – wichtig und attraktiv. Bei den anstehenden Themen Ernährung und Entschlackung hatte ich mich ausgekannt. Ich wusste nicht erst seit Kurzem, was ein Körper benötigte, um mitmöglichst wenigen Lebensmitteln auszukommen. Früher hatte ich meiner schlanken Linie zuliebe gehungert. Ich war dabei immer konsequenter gewesen als die meisten Frauen bei ihren Diäten. Mein eigener Körper war mir ein zutiefst vertrautes Wesen. Ich kannte jeden Quadratmillimeter von ihm.
Verdammt, wo steckte Mario?
Ich war so aufgeregt. Aufgeregt wegen des Termins mit Linnerth. Dabei liefen unsere Treffen einfach nur professionell ab. Trotz seiner mir anfänglich unheimlichen Selbstsicherheit war Linnerth mir gegenüber nie unverschämt, geschweige denn zudringlich aufgetreten. Alles war ein bisschen wie ein Spiel abgelaufen. Besser gesagt wie eine Spielerei zwischen gut gelaunten Menschen. Diese Plänkelei aber hielt mich in der letzten Zeit über Wasser. Ohne diese Momente, die mir hinterher immer unwirklich vorkamen, hätte ich oft nicht mehr weitergekonnt. Ich brauchte sie wie ein Alkoholiker die Flasche. In diesen Momenten fühlte ich mich lebendig.
Wenn Mario nicht bald nach Hause kam, würde ich durchdrehen. Er durfte mir nicht auch noch dieses letzte Stückchen Glückseligkeit nehmen. Nur das bitte nicht.
Da hörte ich endlich ein Geräusch an der Tür. Mario grüßte mich flüchtig. Vor lauter Erleichterung stürzte ich ihm mit einer überschwänglichen Geste entgegen. Er sah mich mit einer Mischung aus echter Überraschung und einer gewissen Herablassung an.
»Du bist ja gut gelaunt.«
»Ich muss gleich los. Das Essen steht im Ofen.«
Noch ehe Mario abgelegt hatte, war ich zur Tür heraus.
Auf der Windschutzscheibe hatte sich eine weiße Schicht Raureif gebildet. Die Scheibenwischer schafften es gerade noch,die Sicht zu klären.
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