Sally
wieder erholen oder ganz aufgeben würde.
Ich kam indessen aus dem Arbeiten gar nicht mehr heraus, weil ich inzwischen aus Geldmangel auch die Kleider meiner Kinder selbst nähen musste. Wenn es irgendjemanden gab, auf den ich in dieser Situation setzen konnte, dann war ich das selbst. Für mich war das sogar in Ordnung. Ich würde alles für meine Familie tun und auch Mario unterstützen, so lange ich konnte. Ich verstand ihn. Männer treffen berufliche Probleme besonders hart. Einige Leute in unserem Ort sind deshalb schon dem Alkohol verfallen. Bei Mario war es besonders schlimm. Auf mein gutes Zureden hin hatte er gebüffelt wie ein Klassenbester, und jetzt schien alles umsonst gewesen zu sein. Und dabei konnte er nicht einmal etwas für seinen Absturz.
Also beschloss ich, ihm Zeit zu geben, und arbeitete so viel wie möglich. Aber je mehr ich mich mit kijiji.at beschäftigte, umso mehr anzügliche Anzeigen entdeckte ich. Sie ließen mir bald keine Ruhe mehr. Gab es tatsächlich so etwas wie einen virtuellen Strich? War das überhaupt legal? Und wo spielte sich das alles ab? Ich fing an, mir die schlimmsten Bilder auszumalen. Ich stellte mir vor, dass Mädchen ihre Körper willenlos und abhängig von gewalttätigen Zuhältern Freiern aus dem Internet hingeben mussten. Ich stellte mir misshandelte und missbrauchte Kreaturen vor, die auf dieser Welt ganz alleine waren und ihre Liebesdienste in der Not im Online-Shop verkauften. Irgendjemand muss ihnen doch helfen, dachte ich und beschloss, mich mit meinem Direktmarketing an solche Frauen zu wenden.
Wahllos rief ich eine Nummer an. Sie gehörte einer Lara (25, mit großer Oberweite), die täglich von zwölf bis vierzehn Uhr massierte.
»Hallo?«, meldete sich eine Mädchenstimme.
»Ich habe Ihr Inserat auf Kijiji gelesen und wollte Ihnen einen Job anbieten«, sagte ich. »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Es handelt sich um einen ordentlichen Job, bei dem Sie ganz gut verdienen können, wenn Sie sich ein bisschen anstrengen.«
Ein ordentlicher Job. Was redete ich da? Mit einem Mal kam ich mir überheblich und lächerlich vor. Aber diese zarte, leise Stimme und dann diese halbseidene Massage-Nummer. Dagegen müsste sich doch etwas tun lassen.
»Äh? Wie meinen Sie das?«, fragte Lara oder wie auch immer sie wirklich hieß.
»Es geht wie gesagt um einen vernünftigen Job. Wollen Sie am kommenden Dienstag zu einer kleinen Präsentation kommen?«
Vor meinem inneren Auge sah ich alle erdenklichen Grausamkeiten, die Lara über sich ergehen lassen musste. Demütigung, Prügel, Vergewaltigung. Zum Glück unterbrach sie meinen Gedankenfluss.
»Wie viel verdient man da?«
»Am Anfang sind es fünfzig oder hundert Euro im Monat, vielleicht einmal dreihundert. Wenn Sie dran bleiben und Ihre Sache gut machen, kommen Sie mit der Zeit auf zweitausend oder mehr. Unser Chef verdient glatte viertausend im Monat damit. Für Fleißige ist alles möglich.«
Lara lachte höflich.
»Dreihundert klingt gar nicht so schlecht, aber das verdiene ich in drei Stunden«
»Wie bitte?«
Nicht nur Lara lachte mich aus. Ich rief so ziemlich jede leichte Dame an, die auf kijiji.at inseriert hatte. Meine wesentliche Erkenntnis dabei war, dass sich diese Frauen freiwillig prostituierten. Die Vorstellung, den eigenen Körper zu verkaufen, kam mir so erbärmlich vor. Doch für den Direktvertrieb interessierte sich keine einzige der Frauen.
5
DEZEMBER 2008. Ein unangenehmer Geruch weckte mich. Mario fingerte an meinem Pyjama herum. Eine Weile regte ich mich nicht, in der Hoffnung, dass er neben mich hinsinken und einschlafen würde.
»Mario, lass gut sein«, flüsterte ich schließlich. Er sollte nicht bemerken, dass ich weinte.
Ich wusste nicht einmal genau, warum ich weinte. Ob aus Müdigkeit, Traurigkeit oder einfach aus Hunger. Hunger nach einem guten warmen Abendessen im Kreise meiner Lieben. Oder Hunger nach dem Leben, nach einem Leben, das funktionierte, in dem wir alle gemeinsam lachten. Wie früher. Viel früher. Waren das wirklich wir gewesen?
»Elke, komm schon. Stell dich doch nicht so an!«
Mario roch nach Kneipe. Er widerte mich nicht an. Ich war nur so unendlich ausgebrannt. Der Direktvertrieb war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. An die Hoffnungen, die ich den Internet-Nutten machen wollte, klammerte ich mich täglich selbst vergebens. Ich schaffte selbst keine dreihundert Euro im Monat, und selbst dreihundert Euro wären angesichts unserer laufenden Kosten
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