Sally
verordnet hatte. Zur Selbstmotivation las ich damals Tatsachenberichte kriegsgeschädigter Menschen, die beschrieben, wie sie gegen den Hungertod Sägespäne, die sie zwischen Bahngleisen fanden, mit Wasser anrührten und aßen. Ich besuchte damals einen Lehrgang für medizinische Facharbeit in Wien. Es war eigentlich eine gute Zeit. Ich hatte meine erste eigene kleine Wohnung und war endlich frei. Meine Mutter hätte mir die Diät nie erlaubt. Sie war eine gute Köchin und mästete mich wie eine Martinigans. Wer etwas leisten wollte, der musste aufessen. Das begann schon beim Frühstück mit Butterbrot und Marmelade sowie stark gezuckertem Tee. Ich wog damals immer zehn bis elf Kilo zu viel. Am Ende meines Diätjahres hatte ich zehn Kilo abgenommen, besaß ein Diplom mit ausgezeichnetem Erfolg und mein erstes figurbetontes Etuikleid in Flieder.
»Mama, wann kommt Papa?«, fragte Anke.
Kommende Woche stieg bei Linnerth eine Weihnachtsfeier. Darauf freute ich mich.
»Er kommt gar nicht, stimmt’s?«
»Sei nicht traurig. Morgen essen wir wieder alle zusammen.«
Anke zwinkerte mir zu.
»Mama, ich bin nicht traurig. Wenn Papa nicht da ist, meckert wenigstens niemand.«
Ich lächelte ihr zu und Georg grinste mich aufmunternd an. Ich war so stolz auf meine Kinder.
8
DEZEMBER 2008. Als Anton seine Gitarre auspackte, erreichte die Stimmung den Höhepunkt. Um mich herum glitzerte es im Studio. Der Weihnachtsschmuck war wunderschön und sehr geschmackvoll. Gegessen hatte ich mit schlechtem Gewissen. Am liebsten hätte ich etwas vom Buffet eingepackt und den Kindern mitgebracht. Anton strahlte mich von der improvisierten Bühne an. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Ich war etwas beschwipst. Normalerweise trank ich keinen Tropfen Alkohol. Das eine Glas zum Anstoßen hatte ausgereicht, um mich in eine leicht überdrehte dusselige Stimmung zu versetzen. Vor mir verwandelte sich der Empfang des Fitnesscenters in einen schmucken kleinen Ballsaal. Als ich noch ein Kind war, hatten wir am Heiligen Abend auch immer gesungen. Ich hatte dazu musiziert. Acht Jahre lang hatte ich Klavier und mehr als fünf Jahre lang Gitarre gelernt. Vor dem Weihnachtsbaum hatten wir uns an den Händen gehalten. Die Wunderkerzen hatten durch das Tannengrün geblitzt, während die Geschenke gewartet hatten. Die Luft hatte nach gebratenen Äpfeln und Vorfreude gerochen. Mit Mario war das alles nie möglich gewesen. Es war ihm wohl zu kindisch oder einfach zu peinlich gewesen. Auch im familiären Kreis war er nie richtig aus sich herausgegangen. Und jetzt diese Überdosis an gemischten Gefühlen. In mir machte sich eine heimelige Stimmung breit, als ich Antons Lieder mitsang. »I’m dreaming of a white Christmas«. Dieser kraftstrotzende Mann griff beinahe zärtlich in die Saiten. Ich atmete immer wieder tief durch. Ich dachte an seine flüchtigen Berührungen, wenn er mir in den Mantel half und dabei sanft meine Schultern drückte.
Die ersten Gäste gingen schon, aber ich blieb und lauschte seiner tiefen warmen Stimme. Ich wurde immer schwerer in meinem Sessel, während die Zeit unmerklich verging. Ich hätte ewig so sitzen und singen können, träumen, schauen. Anton stimmte ein Lied nach dem anderen an. Wir sangen bis zwei Uhr morgens. Irgendwann waren alle anderen gegangen.
»Ich glaube, ich muss jetzt auch gehen«, sagte ich zu Anton. »Ich bin total verspannt und sollte schlafen.«
»Na gut«, sagte er. »Aber ich zeige dir gerne ein paar Übungen gegen die Verspannungen, wenn du Zeit hast.«
Bildete ich mir das ein oder packte er die Gitarre mit einer widerwilligen Bewegung ein? Ich holte meine Jacke und hielt sie ihm demonstrativ entgegen. Das vertraute Schulterdrücken hinterher blieb diesmal aus. Der Raum war auf einmal ganz leer und still. Ein paar Lichter flackerten noch. Wir waren beide verheiratet. Ich drehte mich um, damit ich mich verabschieden konnte. In diesem Moment küsste er mich direkt auf den Mund.
»Was soll … das?«, fauchte ich erschrocken.
Er sah mich einfach nur an, wortlos.
Ich musste sofort raus hier. Heftig stieß ich die Tür auf. Die Nachtluft peitschte mir eiskalt ins Gesicht. Der Boden war glatt und ich strauchelte beinahe. Verkrampft riss ich die Wagentür auf. Die Zündung funktionierte erst beim dritten Versuch. Hinter mir brannten in Linnerths Fitnessstudio die letzten Kerzen nieder.
Ich nahm die nächste Querstraße, hielt und heulte haltlos wie ein kleines Mädchen los. Ich wollte sterben.
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