Sally
Meine Welt stand auf dem Kopf. Wie konnte er nur? Dieser Kerl! Der glaubte offenbar, die Welt gehörte ihm allein. Oder war ich vielleicht selbst schuld? Hatte ich diese Situation herausgefordert? Undwie sollte ich das alles Mario erklären? Mario durfte nie etwas davon erfahren. Er war sehr eifersüchtig und alle wussten, dass Linnerth ab und zu eine abschleppte. Jetzt hatte er es auch bei mir probiert.
Mindestens eine Viertelstunde saß ich bei Eiseskälte im Wagen und weinte. Sollte ich noch einmal zurückfahren? Wie sollte ich Linnerth jemals wieder in die Augen sehen? Was würde aus meinem Job werden? Ich wischte mir energisch über die Lippen, stieg aufs Gas und fuhr los. Ich musste nach Hause.
Erst in der Badewanne kam ich langsam zur Ruhe. Die frühmorgendliche Pediküre entspannte mich. Schlafen konnte ich sowieso nicht mehr. Die Flucht ins Badezimmer hatte mir schon immer geholfen. Hier war mein Reich. Hier gab es keinen Mario und keine Kinder. Nur mein Hund begleitete mich auch hierher.
»Ach Bobby, das ist wirklich eine schöne Scheiße.«
Oh Gott, ich war tatsächlich verknallt. Und ich hatte mich ausgerechnet in Linnerth verliebt. Konnte das wahr sein? Es würde vorübergehen. Das war reine Gefühlsduselei. Ein Haschen nach dem Wind. Ich war seit elf Jahren und sechs Monaten eine treue Ehefrau und Mutter, und daran war auch und schon gar nicht in schlechten Zeiten zu rütteln. Kein Grund zur Panik. Das mit dem Alkohol würde mir auch nie wieder passieren.
Als ich unter die Bettdecke schlüpfte, verspürte ich seit Langem wieder zärtliche Regungen für meinen Mann in meinem Innersten. Marios Gesicht war so friedlich im Schlaf. Mario, es tut mir so leid, dachte ich. Ich kriege das alles in den Griff. Morgen ist Weihnachten. Morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus.
Am Heiligen Abend waren meine Eltern und meine Großtante bei uns zu Besuch. Ich hoffte, dass niemand den Weihnachtsschmuck vom vergangenen Jahr erkannte. Mario hatte den Baum in letzter Sekunde als billigen Restposten gekauft. Die kleine Festtagsprämie, die Linnerth mir vor den Feiertagen ausbezahlt hatte, hatte für einen Truthahn gereicht. Niemand konnte ahnen, wie schlecht es um uns stand. Und für diesen einen Tag würde auch ich es vergessen. Heute war Weihnachten, meine Familie war um mich versammelt und alles würde gut werden.
9
FEBRUAR 2009. »Bleibst du heute noch?«
»Deine Frau wartet bestimmt schon.«
Anton blinzelte. Die Luft im Raum knisterte. Wir hatten als mittlerweile eingespieltes Team eine sehr harmonische Präsentation hinter uns. Seit den Feiertagen nahmen die Dinge wieder ihren gewohnten Lauf. Aber um Marios und meine Finanzen stand es immer schlimmer. Jetzt drohte uns auch noch eine Steuernachzahlung.
»Hast du nicht eine Nackenverspannung erwähnt? Du weißt doch, was für fatale Folgen derartig hartnäckige Verspannungen haben können«, sagte Anton mit einem Mal lächelnd.
Diesmal lief ich nicht davon. Anton forderte mich auf, meinen Oberkörper freizumachen, um meine Bewegungsabläufe beobachten zu können. Ich hatte die Situation noch im Griff. Nur ein wenig zitterten meine Hände, als ich meine Bluse fein säuberlich auf der Tischplatte neben mir zusammenfaltete. Ich setzte mich auf eine Langbank, die während den Präsentationen als Ablage für diverse Schönheitsprodukte gedient hatte. Anton stellte sich direkt vor mich. So nahe, dass mein Atem die kleinen Härchen auf seiner Haut bewegte. Er umfasste meinen Nacken, wobei mein Gesicht seinen Hals berührte. Eine Gänsehaut überzog meinen ganzen Körper. Ich bin also noch immer lebendig, dachte ich. In diesem Moment küsste Anton mich. Was tat ich da eigentlich? Ich brauchte keine Antwort zu finden. Es war ohnedies zu spät. Nun gab es kein Zurück mehr.
Von nun an blieb ich regelmäßig nach der Arbeit in der Firma. Wenn wir nach Wien fuhren, benahmen wir uns wie frisch Verliebte. Hand in Hand schlenderten wir durch die Innenstadt.Anton war sehr liebevoll. Die Sicherheit, die von ihm ausging, gab mir Kraft. Ich war glücklich. Heimlich malte ich mir immer öfter eine Zukunft mit ihm aus. Er verkörperte alles, was mir seit Jahren fehlte. Ich schwebte auf einer Wolke und nichts konnte mir etwas anhaben. Sogar Mario war sanfter zu mir geworden. Endlich schien sich wieder eine positive Energie über uns auszubreiten. Deshalb fühlte sich alles an, als wäre es richtig.
Mir war in dieser Zeit alles egal, was mich früher wahnsinnig gemacht
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