Sally
hatte. Marios offene Zahnpastatube, seine Haare in der Dusche und sein unrasiertes Kinn. Seine ungehobelte Sprache, sein schlechtes Benehmen bei Tisch, seine offenen Hemden und dass er kaum noch zu Hause war. Was immer er trieb, Geld verdiente er keines damit. Ich fragte nicht so genau nach. Die amerikanische Arbeitslosigkeit war am höchsten Stand seit 1974 angelangt, und ich hatte inzwischen begriffen, dass sich solche Krisenphänomene rasch internationalisierten.
Mario kam oft erst um sechs Uhr morgens heim. Auch das kümmerte mich nicht mehr. Ich gehörte wieder mir selbst und fühlte mich dank Anton dabei nicht allein. Mit meinen spärlichen monatlichen Einnahmen versuchte ich die dringendsten Rechnungen zu begleichen. Obwohl das Geld nicht einmal ansatzweise reichte, war ich unbeschwert und brauchte kaum Schlaf. Auch die Schneiderei machte mir wieder mehr Spaß. Oft dachte ich an den Tag, an dem ich Anton zum ersten Mal begegnet war. Ich erinnerte mich noch an die Bolerojacke, an der ich gerade gearbeitet hatte. Ihre Ärmel waren zu lang gewesen.
HAUSMANN
DIENSTAG, 8. DEZEMBER 2009, 15:00 UHR. Egon schickte mir eine schüchterne E-Mail nach der anderen. Ein Termin kam dabei nicht zustande. Zu Hause und im Atelier fiel jede Menge Arbeit an, und ich hatte keine Zeit für die platonischen Liebesergüsse eines zahlungsunfähigen oder entscheidungsschwachen Mannes, der zwischendurch von seinem Sohn schwafelte. Ich bemühte mich dennoch höflich zu bleiben. Seine E-Mails waren immerhin nett formuliert. Irgendwann rief er dann doch an.
»Was sollte das mit deinem Sohn?«, fragte ich ihn als Erstes.
»Ich bin bei uns die Hausfrau«, sagte Egon. »Kann ich bei dir vorbeischauen, wenn ich mit dem Kleinen spazieren gehe? Ich würde gerne dein Gesicht sehen.«
»Von mir aus. Gib mir Bescheid, wenn du da bist, dann winke ich dir vom Fenster aus zu.«
Ich war sicher, nie wieder etwas von dem komischen Kauz zu hören. In den folgenden Wochen erhielt ich dann mehrere SMS, in denen er seinen Besuch ankündigte, ohne je wirklich zu kommen. Eines Tages stand er dann doch unter meinem Fenster. Ich wartete gerade auf den nächsten Kunden, einen betagten Arzt, und nähte dabei eine Hose fertig. Als Egons SMS kam, zog ich eben den letzten Faden durch das Nadelöhr.
»Schau bitte heraus!«
Ein junger Mann mit einem dunkelblauen Sportbuggy stand vor meinem Fenster.
»Egon?«
»Sally?«
»Ich habe nicht gedacht, dass du so hübsch bist«, sagte er. Das Kind im Buggy gluckste wie zur Bestätigung. Der kleineJunge hatte wie sein Vater einen blonden Haarschopf und strahlend blaue Augen.
»Dein Sohn ist wirklich süß«, sagte ich.
Ich dachte an Georg, und wie schön er als Baby gewesen war. Kleine Jungen besitzen einen unwiderstehlichen Charme und ein natürliches Talent, Frauen um den Finger zu wickeln.
»Kinder sind das Beste, was einem im Leben passieren kann«, sagte Egon, dann musste er weiter, weil der Kleine unruhig wurde. »Ich komme bestimmt wieder«, sagte er und winkte mir über den Kinderwagen hinweg zu.
Als er sich wenige Wochen später bei mir einfand, erklärte er, dass er nur wenig Zeit und Geld hätte.
»In diesem Fall empfehle ich dir, zu Hause zu bleiben«, sagte ich. Ich meinte es ernst.
Aber Egon blieb eine Stunde und seine Lust offenbarte sich denkbar leise. Er brabbelte dabei vor sich hin, so ähnlich wie sein Sohn, der währenddessen draußen im Vorzimmer unschuldig schlief.
Nach seinem ersten Besuch kam er regelmäßig alle drei Monate zu mir. So lange brauchte er jeweils, um sich die hundert Euro weiß Gott wovon abzusparen. Seine Frau sei für knisternde Erotik im Ehebett nach ihren langen Arbeitstagen zu müde, meinte er. »Ich bin froh, dass ich dich habe.«
10
MÄRZ 2009. »Ich muss mit dir reden.«
Anton strich mir sachte über den Kopf. Ich schmiegte mich in seine Hand und schnurrte wie eine Katze. Wie liebevoll dieser Draufgänger sein konnte.
»Wir müssen los, ich weiß. Ich ziehe mir nur rasch die Lippen nach.«
Vor uns lag eine längere Tour durch die Restaurants von Wiener Neustadt und Umgebung. Die Kinder waren den ganzen Nachmittag bei meinen Eltern. Am Abend würde Mario sie abholen.
Ich verschwand im hellgrünen Bad des Fitnessstudios und suchte in der Handtasche nach einem Lippenstift. Eine Streichholzschachtel fiel heraus. »Ristorante Rossini« stand darauf. Ich hob sie vom Boden auf und musste an den vergangenen Dienstag denken. Anton hatte nicht wie geplant vor der
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