Sally
die Ohren und schloss ihn im Haus ein. Im Rückspiegel sah ich hinter mir mein Lebenswerk verschwinden.
Die Nacht war kalt und es schneite. Schon oft, wenn mich der Stress und die Sorgen nicht einschlafen lassen hatten, war ich mit dem Auto herumgefahren. Um alleine zu sein und um michin meine Gedanken vertiefen zu können. Wenn ich in manchen Häusern dann noch Lichter gesehen hatte, hatte mich das gestört. Die Lichter hatten mein Gefühl von Freiheit beschränkt, indem sie sich in meine spärlichen, kostbaren Momente von Intimität gedrängt hatten. Nicht einmal heute Nacht konnte ich absolut allein sein, so wie ich es mir gewünscht hätte: nur ich und die Ewigkeit. Immer schimmerten irgendwo in der Ferne vereinzelte Lichter.
Ich wählte die Route durch den Wald. Hier würde ich bestimmt keiner Menschenseele begegnen. Schon vor einiger Zeit waren mir die vielen Kreuze und Gedenkstätten entlang der Straße dort aufgefallen. Kleine Holzkreuze und graue Steine mit den Namen der Toten darauf säumten den Straßenrand. Bei manchen standen sogar Laternen und Vasen mit Kunstblumen. Wie viele Menschen waren hier verunglückt und wie viele hatten sich freiwillig entschieden zu gehen?
Mein Körper schien sich aufzubäumen, doch meine Finger verschmolzen mit dem Lenkrad. Ich hielt mich daran fest. Die Fahrbahnstreifen flitzten knallweiß unter meinem grünen Skoda durch. Ich trat das Gaspedal durch und schloss die Augen.
Die Kinder würden anfangs weinen, aber auch das würde vergehen. Menschen können so viel ertragen. Daran hatte ich immer geglaubt.
Wie lange raste ich schon so dahin?
Gleich würde es vorbei sein.
Aber nichts geschah. Wo blieb der befreiende Aufprall? Lieber Gott, bin ich schon tot, dachte ich. Könnte ich dann noch denken? Plötzlich bekam ich furchtbare Angst. Angst davor, die Augen zu öffnen. Der Schweiß brach mir aus. Mit geschlossenen Augen trat ich heftig auf die Bremse. Die Reifen quietschten undder Wagen verzog, bis er mit zwei Rädern in der Wiese neben der Straße stand. Ich hatte blind mehrere hundert Meter zurückgelegt. Es grenzte an ein Wunder, dass ich gegen keinen Baum gedonnert war. Ich öffnete die Tür, brach weinend zusammen und fiel hinaus in den Schnee. Gott und die Welt verdammend kroch ich außen um den Wagen herum in den Straßengraben, um dort am kalten Boden zu erfrieren.
Mehrere Stunden lag ich in einem Zustand zwischen Wachen, Schlafen und Bewusstlosigkeit da. Hätte mich jemand angesprochen, hätte ich nicht reagieren können. Tief fraß sich die Kälte in meine Glieder. Ich realisierte sie, ohne richtig zu frieren.
Allmählich graute der Morgen. Die ersten Autos fuhren vorbei, ohne anzuhalten. Wie ferngesteuert raffte ich mich auf und kletterte zurück in den Wagen. Mir war noch immer weder warm noch kalt und ich empfand keine körperlichen Schmerzen. In mir war nur dieses Gefühl absoluter Verzweiflung und schrecklicher Ohnmacht. Als ich losfuhr und wendete, meinte ich das höhnische Grinsen der geschmückten Kreuze im Nacken zu spüren. So viele Leben hatten hier ein Ende gefunden, nur meines nicht.
12
MÄRZ 2009. Ich wollte mich wie eine Diebin zurück ins Haus schleichen. Doch Mario baute sich vor mir auf. Er zeigte keine Freude, kein Mitleid, geschweige denn Zärtlichkeit, nur eine gewisse Erleichterung. Vermutlich war er doch etwas nervös geworden. Irgendwann musste er aufgewacht sein und meine Abwesenheit entdeckt haben. Vermutlich hatte er mich vergeblich bei den Kindern, im Atelier, beim Computer, im Wohnzimmer und beim Wäschetrockner im Keller gesucht und war unruhig geworden, als er bemerkt hatte, dass mein Mantel und mein Autoschlüssel fehlten. Schließlich musste er meinen Abschiedsbrief gefunden haben. Den hatte er offenbar nicht für einen verfrühten Faschingsscherz gehalten, sonst hätte er sich gleich wieder seiner unverwüstlichen Nachtruhe gewidmet. Schweigend ging ich an ihm vorbei und dachte dabei an Skoliose. Skoliose ist keine besonders häufige Krankheit und nur während des Wachstums therapierbar. Wird sie nicht rechtzeitig behandelt, erstickt der Patient qualvoll, weil die mit ihr einhergehende fortschreitende Fehlstellung der Wirbelsäule die Lunge einklemmt. Die Knochen von Kindern lassen sich, da sie noch nicht gänzlich ausgehärtet sind, mit medizinischen Hilfsmitteln zurück in eine gerade Stellung bringen. Meine Mutter hatte meine Krankheit zum Glück früh bemerkt, weil meine Beine durch die dabei auftretende
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