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Sally

Sally

Titel: Sally Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Päsler
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Beckenschiefstellung unterschiedlich lang waren. Deshalb steckte ich mit zwölf Jahren dreiundzwanzig Stunden am Tag in diesem Mieder aus Hartplastik. Es war ein Bostonmieder mit einem Bügel, der quer über meine Brust gespannt war. An den Beinen war es ausgeschnitten und vorne reichte es bis über das Schambein. Ich litt beim TragenHöllenqualen, doch mit der Zeit wurde das Mieder zu einem Teil von mir. Ich schlief damit, ging damit aufs Klo und aß meine Mahlzeiten damit. Ich musste die Schmerzen ertragen, schließlich konnte ich meine Situation nicht ändern.
    Auf der zuständigen Station im Krankenhaus wurden meine Leidensgenossinnen und ich die »Miedermädchen« genannt. Die Ärzte kontrollierten mein Wachstum regelmäßig mit einem Handknochenröntgen. Ich wusste, dass ich das Mieder erst loswerden würde, sobald die Handwurzelknochen vollständig zugewachsen sein würden. Ich lernte, mit Blasen und aufgescheuerten blutigen Stellen am Körper zu leben, und gewöhnte mir eine besondere Atemtechnik an, weil es im Mieder zu eng für die normale Bauchatmung war. Ich lernte, mit permanenten körperlichen Schmerzen zu existieren. Manchmal kam ich blutig nach Hause, weil mich einer der Jungs zum Spaß umgeworfen hatte. Während die Burschen in der Schule gehässig waren, bemutterten mich die Mädchen, doch das war beinahe noch schlimmer, denn ich wollte nie jemandem leidtun.
    Ich gewöhnte mich nie so richtig an meinen Zustand, aber ich tröstete mich irgendwann damit, seine positiven Seiten zu sehen. Ich wusste zum Beispiel, dass mir das Mieder zu einer Wespentaille verhelfen würde. Ich lernte sogar, es zu genießen, anders als die anderen zu sein. Ich fühlte mich als etwas Besonderes, stand im Mittelpunkt und bekam, was ich mir wünschte. Ich feierte auch kleine Erfolge. Zum Beispiel schaffte ich es bald wieder, Rad zu fahren. Und mit fünfzehn war dann der ganze Spuk vorerst vorüber.
    Seit dieser Zeit konnte mir nichts und niemand so schnell etwas anhaben. Ich hatte zu kämpfen gelernt. Jetzt beschloss ich, den Kampf neu aufzunehmen und weiterzumachen. Ichhatte mich mit klammen Fingern aus dem Straßengraben gezogen und fand mich in einem Zustand wieder, den ich längst vergessen zu haben geglaubt hatte. Ich, das Miedermädchen, war umgefallen. Aber ich war immer wieder auf die Beine gekommen. Ich würde auch dieses Mal kämpfen. Es gab bloß einen Unterschied: Etwas von mir war im Straßengraben liegen geblieben. Ich würde meinen Kampf mit aller Kraft kämpfen, und trotzdem war mir auf einmal alles egal.

Zweiter Teil
SAMTHAUT
    DIENSTAG, 19. JANUAR 2010, 11:00 UHR. Seine Haut fühlte sich an wie Samt, prall und elastisch. Ihre Oberfläche war glatt und erinnerte mich an ein Feenkostüm, das ich für Anke anlässlich des jährlichen Faschingsfestes im Kindergarten aus hellgelbem Seidensatin, rotem Samt und goldenem Zwirn genäht hatte. Wie stolz meine Kleine gewesen war, als sie unter der Anleitung der Kindergartentanten mit den anderen bunten Fantasiegestalten um die Wette Schokolade gegessen hatte.
    Ich strich behutsam über seinen nackten Rücken. Seine Haut war makellos wie bei einem Kind. Nicht einmal seine Muskelkonturen zeichneten sich ab.
    Seine E-Mail hatte flapsig geklungen: »Hejo, Sally. Gehen auch nur 30 min.? Kostet das dann weniger? ;-) XO J.«
    Jens war Student und keine zwanzig Jahre alt. Sein Blick, seine Statur, seine Körperhaltung und sogar die Art, wie er die Schuhe am Fußabtreter vor meiner Wohnungstür abgestreift hatte, waren zaghaft und linkisch. Kaum hatte er die Haustür hinter sich geschlossen, wühlte er auch schon in seinen Jackentaschen und zog einen Haufen zerknüllter Fünf- und Zehn-Euro-Scheine hervor. Ein paar Münzen waren auch dabei. Er hielt mir das Geld hin und sah mich dabei an wie ein Schulkind, dessen größtes Glück ein Sternchen im Aufgabenheft ist. Innerlich musste ich schmunzeln.
    »Die Münzen steck wieder ein und die neunzig Euro leg auf den Tisch.«
    Studenten bekamen bei mir zehn Prozent Rabatt. Er strich die Scheine glatt, drapierte sie brav auf der Kommode und starrte mich fragend an.
    »Du kannst dich da drüben duschen«, sagte ich. »Danach legst du dich einfach auf das Bett und ich verwöhne dich ein wenig. Okay?«
    Ich deutete auf das Massagebett, das meine kleine Wohnung unmissverständlich dominierte. Er nickte und verschwand geräuschlos im Bad. Genauso leise, wie er später auf der Massagebank kam, verließ er meine Wohnung wieder. Es folgte

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