Salomes siebter Schleier (German Edition)
Endes gekommen? Was waren die metropolitanen Gegenstücke zum fröhlichen Treiben ums Lagerfeuer oder zu den mit Reißzähnen bewehrten Ungeheuern, die unschuldigen Mädchen auf dem Weg zum Brunnen auflauerten?
Zwar war das Gemälde äußerst gewichtig, von der Schwerkraft nach unten gezogen wie die Haut eines alten Weibes, doch nichts darin wirkte statisch. Die Pilze und die Fetische, die Wolle und der Wein, die Maskaratiegel, die Mohnblumen, die Grillen, die Giftpfeile, die kühnen Spiralen schweren Rauchs – all das wirbelte durcheinander wie die Sterne: vorwärts, nach außen, rückwärts, nach innen, seitlich, kopfüber und auf ewig. Das eiserne Schwert, eingebettet im Stamm der Eiche, war so lebendig wie der kleine silberne Löffel, der auf dem Büffelfell Trampolin sprang; die goldene Wiege, die in einer Gabelung des Baumes balancierte, schaukelte so stark, dass sie den Himmel ins Wanken brachte – ein Tierkreis, transformiert in eine Music-Hall.
Trotz seiner Komplexität, seiner düsteren Tiefe lag etwas Übermütiges, wenn nicht Ungestümes darin, etwas Sorgloses und Kindliches. Stellare Informationen zuckten auf, bogen sich unter dem Gewicht von Asche, getrockneten Lehmziegeln und Knochen, aber alles ging drunter und drüber wie in einem Kinderlied; es war wie ein Kachima-Flipper, wie eine Episode aus dem Kinderfernsehen.
In gewisser Weise glich es – und das muss hier einfach mal gesagt werden – dem Raum mit der Wolfmuttertapete. Als Salome zu ihrer Freitagabendvorstellung eintraf, warf sie einen langen, verzückten Blick darauf und willigte ein, den Tanz der sieben Schleier zu tanzen.
I & I
Sie tanzte den Tanz der sieben Schleier nicht in dieser Nacht, wie Abu schon beinahe glaubte. «Wird sie ihn dann morgen tanzen?», fragte er den Bandleader am Ende der Vorstellung. Salome war bereits gegangen. Sie sprach ohnehin nur selten, teils aus Schüchternheit, teils wegen ihres ausgeprägten Lispelns, teils wegen eines kulturellen Kodexes, den sie angeblich befolgte. «Wird sie ihn morgen tanzen?»
«Das nicht.»
«Oder nächste Woche?»
«Das nicht.»
«Wann also?»
«Später.»
«Oh, ich kapiere.
Mish mish.
Wenn die verdammten Aprikosen blühen.»
«Nein, nein, mein Wohltäter, nein. Der Monat des Tanzes soll der Januar sein. Das Datum des Tanzes soll der dreiundzwanzigste sein. Der Tag des Tanzes soll ein Sonntag sein. Die Stunde des Tanzes soll um drei Uhr nachmittags sein.»
«Hmm, verstehe. Na, das ist ja wirklich sehr präzise. Ich werde Sie nicht bitten, mir zu erläutern, wie sie auf diese Stunde gekommen ist, aber ich möchte doch darauf hinweisen, dass sie noch gute sieben Wochen entfernt ist.»
«Sie muss sich vorbereiten», sagte der Bandleader. Und nicht das kleinste Bröckchen Zahnschmelz in seinem Mund hinderte ihn an diesen Worten.
Das Management hatte eigentlich nicht vorgehabt, die Nachricht so rasch zu verbreiten, aber sie sickerte schneller durch als Strahlung aus einem staatseigenen Reaktor, und als am Samstagabend die Vorstellung begann, quiekte das Restaurant von der Küche bis zur Warteschlange vom Sieben-Schleier-Helium. Doch so gut wie keiner wusste das richtige Datum, und die wenigen, die den Tag getroffen hatten, verlegten die Stunde auf irgendwann zwischen Morgengrauen und Mitternacht. Daher lieh sich Abu vom Bandleader das Mikrophon, baute sich würdevoll und in voller Größe auf, wobei seine Nase wie ein fluoreszierender Pylon im Licht des Scheinwerfers leuchtete, räusperte sich und begann: «Meine Damen und Herren, Isaac & Ishmael’s, das Restaurant mit der multikulturellen Küche Jerusalems, ist stolz darauf, Ihnen ankündigen zu dürfen …»
Er schloss vor einer Handschuhfabrik von Applaus. Selbst die avantgardistischen Flüchtlinge aus dem Payday und Nell’s, Leute, die sich rühmten, sich niemals für irgendetwas zu begeistern (außer für sich selbst zu Hause vor dem Spiegel), schlugen eine feuchte Handfläche gegen die andere, ließen sich jedoch nicht zum Pfeifen oder Johlen herab. Es war derart laut, dass nur die ganz vorn an der Bar Detective Shaftoe hörten, als er ausrief: «Da ist aber ein Haken dran!»
Unter denen, die ihn hörten, waren Abu und Spike, der griechische Delegierte, der ägyptische Doktor, der zypriotische Volkswirt und eine Handvoll israelischer Stammgäste aus der Peace-Now-Bewegung. Sie alle sahen Detective Shaftoe erwartungsvoll und ein wenig ängstlich an.
«Da ist ein gottverdammter Haken dran!»,
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