Salomes siebter Schleier (German Edition)
wenn auch nicht ohne Murren.
«Sie hätte an jedem x-beliebigen anderen Tag tanzen können, stimmt’s? Also warum ausgerechnet dann, wenn das Spiel läuft? Was soll das, verdammt noch mal?»
«Wie der Inspektor ’at bemerkt, es ist eine Falle. Iisch glaube, eine Triiik. Vielleicht sie sabotiert das Football.»
«Nein, nein, ach was. Da steckt nix weiter hinter. Es ist ihr einfach egal, das ist alles. Schließlich ist sie ’ne Frau.»
«Einspruch. Millionen Frauen sehen sich die Super Bowl an. Eines Tages spielen wir vielleicht sogar mit.»
«Haha.»
«So siehst du aus!»
«Wenn die Aprikosen blühen, was?»
Während der Vorstellung am nächsten Wochenende kommentierten mehrere Gäste Salomes Entscheidung mit Zwischenrufen. Manche waren zurückhaltend, andere machten aus ihrem Groll keinen Hehl. Sie schenkte ihnen kaum Beachtung. Im Gegenteil, sie tanzte besser als je zuvor: hingebungsvoller, leidenschaftlicher und ungehemmter.
«Wahrscheinlich bereitet sie sich auf die sieben Schleier vor», sagte ein Bewunderer.
«Ach was», entgegnete der Barkeeper. «Der Bandleader sagt, es macht sie einfach tierisch an, unter diesem Bild zu tanzen.»
I & I
Salome und Sergeant Shaftoe waren nicht die Einzigen, die enthusiastisch auf Ellen Cherrys Wandgemälde reagierten. Ein Künstler, ein Sammler und ein Trio von Galeriehüpfern wandten den Blick lange genug vom Hupf-didudel-tralala ab, um den sternenerleuchteten Hindernisparcours von Ellen Cherrys Schöpfung zu überwinden, um auf der Jagd nach flüchtigen, organischen Formen hier eine Rutschbahn aus Farbe herunterzusausen und dort gegen die schattige Kante eines Rechtecks zu prallen. Immerhin waren sie so beeindruckt, dass sie später in SoHo über das Bild diskutierten, wahrscheinlich in Hörweite von Ultima Sommervell, denn eines Tages erschien sie zum Lunch im I & I.
«Darling, wie unglaublich interessant. Ich darf wohl sagen, dass dies Ihre beste Arbeit ist. Ja wirklich, es ist ein Durchbruch, finden Sie nicht?»
«Es ist ziemlich dasselbe wie das, was ich schon immer gemalt habe.»
«Oh, aber die Abmessungen können einen bedeutenden Unterschied machen. Größe
ist
wichtig, ganz gleich, was unsere feministischen Schwestern dazu sagen.» Ultima gab ein nasales Sprüh-die-Rosen-Gelächter von sich. «Aber es ist natürlich mehr als nur das Format. Es ist Ihre Syntax. Die Art, wie Sie die strukturelle Auseinandersetzung zwischen dem Metaphorischen und dem Metonymischen dirigieren. Was esse ich hier eigentlich?»
«Es heißt
baba ghanoug
.»
«Kein schlechter Name.» Sie schob den hellbraunen Brei mit der Gabel an den Tellerrand. «Inhaltlich scheinen Sie die Grenzen zwischen Innerem und Äußerem, Vergangenheit und Gegenwart, Abstraktem und Konkretem immer wieder zu überschreiten, gelegentlich auch auszulöschen. Ohne Zuflucht bei den billigen Mätzchen des Surrealismus zu nehmen, haben Sie ein Porträt des nächtlichen Bewusstseins geschaffen, mit anderen Worten, ein Porträt der femininen Seite, der rechten Gehirnhälfte, der Intuition.»
«Nun ja … dieses Bild hat tatsächlich mehr mit meiner Intuition als mit meiner Erfahrung zu tun», räumte Ellen Cherry ein. «Hören Sie, vielleicht würden Sie gern eine Kostprobe unseres …» Aber sosehr sie sich auch anstrengte, es fiel ihr nichts Schrecklicheres ein als
baba ghanoug
.
Es war nicht so, dass Ellen Cherry Ultimas Einschätzung ihrer
tychnik
nicht zu würdigen wusste. Die Galeristin hatte einen guten Blick, kein Zweifel. Doch Ellen Cherry hatte ihr Bild weder selbst analysiert noch die geringste Lust, sich die Bewertung von jemand anderem anzuhören. Auf dem kognitiven Level war sie sich nicht sicher, was das Bild bedeutete oder wo es hergekommen war; sie wusste nur, dass es ein Werk von komplizierter und unerwarteter Schönheit war, für das sie auf irgendeine Art verantwortlich zeichnete. Schönheit! War es nicht das, was zählte? Schönheit war nicht gerade ein verbreitetes Ideal in diesem hektischen Augenblick der Geschichte. Die Massen waren zu abgestumpft, und die Intelligenzija beäugte sie misstrauisch. Für die meisten ihrer Kollegen hatte «Schönheit» den Beigeschmack von Vergeistigung, Luxus, Verschwendung und Dekadenz. Wie konnte man guten Gewissens nach Schönheit streben, wenn es auf der Welt so viel Leid und Ungerechtigkeit gab? Ellen Cherry fand, wenn man Schönheit nicht kultivierte, würde man nach kurzer Zeit nicht mehr imstande sein, das Hässliche zu erkennen. Die
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