Salomes siebter Schleier (German Edition)
wiederholte er. In Shaftoes Stimme schwang ein Unterton von Enttäuschung mit, ein Anflug von Ohnmacht und Skepsis, als könne er nicht glauben, was sein polizeigeübtes Gedächtnis ihm gerade offenbart hatte.
Die Super Bowl.
Die Super Bowl.
Die Super Bowl, die Super Bowl, die Super Bowl, die Super Bowl.
Durch einen unschuldigen Zufall oder in diabolischer Absicht hatte Salome den Tanz der sieben Schleier zeitgleich mit dem Anpfiff zur Super Bowl gelegt.
I & I
Fast augenblicklich flammte die Kontroverse auf. Auf der einen Seite diejenigen, für die der legendäre Tanz der sieben Schleier den Charakter einer ausufernden privaten Phantasie angenommen hatte – romantisch, erotisch, üppig, mysteriös und erfüllt vom Widerhall lange verloren geglaubter Exotika, von biblischen und orientalischen Geheimnissen: Sie wären zehn Kilometer über Hundescheiße und Rasierklingen gerobbt, um ihn mitzuerleben, falls es der echte war, und bei dieser umwerfenden Nymphe, die sich Salome nannte, konnte es keinen Zweifel an der Authentizität geben. Auf der anderen Seite diejenigen, die in der Super Bowl das sehnlichst herbeigewünschte und spannendste Ereignis des Jahres sahen, den Höhepunkt fünfmonatigen Hoffens und Bangens, endloser Statistiken, immer neuen Auftriebs fürs Ego und abgrundtiefer Enttäuschungen, ein bedeutender Feiertag, nein,
der
Feiertag schlechthin, ein Tag, an dem jegliche Routine und Pflichterfüllung ruhte, an dem die Nation, die ganze Welt sich einig war, ein Festtag, der alle nationalen, rassischen und religiösen Grenzen sprengte, ein Ritual, in dem die Zeit nicht existierte, abgesehen von der künstlichen Zeit auf der großen Uhr über der Tribüne, eine symbolische Schlacht, in der nur Scheinblut vergossen und die Umklammerung der menschlichen Psyche durch den Tod gelockert und verdrängt wurde: Im Isaac & Ishmael’s stand nach wie vor der größte und schärfste Fernseher im Zentrum von Manhattan, und diese Gruppe war wild entschlossen, das Spiel darauf zusehen.
Es war jedoch nicht eine Frage von zwei rivalisierenden Lagern, von denen das eine Salome und das andere die Super Bowl forderte. Jedenfalls zu Anfang nicht. Zuerst konnte sich die Mehrheit der Stammgäste im I & I gar nicht entscheiden, mit welcher Partei sie es halten sollte. Sie wollte das Spiel
und
den Tanz. Sergeant Shaftoe zum Beispiel konnte sich nicht einmal
vorstellen
, zwischen den beiden entscheiden zu müssen.
Als Humanisten, die sie nun mal waren, gaben Spike und Abu ihr Bestes, um den Streit schon im Keim zu ersticken. Noch in derselben Nacht, sieben Wochen vor dem dreiundzwanzigsten Januar, versuchten sie, Konflikte zu vermeiden und einen Kompromiss zu finden.
Salomes Wagen hatte sich an diesem Abend verspätet, daher wartete sie im Büro darauf, dass ihre Anstandsdame durch den Hinterhof kam und sie abholte. Dort machten sie sich an sie heran. Sie atmete schwer nach der anstrengenden Vorstellung, und ihr Körper war so in Schweiß gebadet, dass die Klamotten geradezu daran klebten. Ihre Schenkel präsentierten sich wie zwei Makrelenfilets auf einer Servierplatte, und ihre Nippel standen ab wie Radiergummi unter nassem Kleenex. Ein kleiner Schnurrbart aus Schweißperlen betonte den vollen Mund und ließ ihn aussehen, als hätte sie an einem reifen Pfirsich gelutscht. Das Haar klebte ihr im Nacken, als sei sie soeben einem Bad entstiegen – oder einem Hochzeitslager. Zu Spikes und Abus großer Erleichterung hatte sie ihre
marquise au chocolat
-Augen hinter einer dicken Brille verborgen und war in einen Donald-Duck-Comic versunken. Wären die Brille und der Comic nicht gewesen, hätten sie vielleicht nicht den Mut aufgebracht, sie anzusprechen.
Wie sich herausstellte, brachte es ohnehin nichts. Mit spuckefeuchtem Lispeln erklärte sie: «Meine Termine stehen fest, Sirs.
Mektoub.
Ich tanze an diesem Tag oder nie.»
Was konnten sie anderes tun als ihr versichern, dass der Tag gut, wunderbar, ausgezeichnet, voller glücklicher Vorzeichen war und eine Nelke im Knopfloch trug? Sie winkten ihr lahm hinterher, als sie in einen schweren Wollmantel schlüpfte und mit beschlagenen Brillengläsern am Arm ihrer Beschützerin durch den Hinterhof verschwand.
Während der nächsten paar Tage informierten sie die Stammgäste über Salomes Entscheidung. Die Stammkundschaft bestand mittlerweile aus dreißig bis vierzig Männern und einem halben Dutzend Frauen. Die Entscheidung wurde im Großen und Ganzen akzeptiert,
Weitere Kostenlose Bücher