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Salomes siebter Schleier (German Edition)

Salomes siebter Schleier (German Edition)

Titel: Salomes siebter Schleier (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Robbins
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viele Frauen, die durchs Kirchenschiff schritten und sich fragten: «Wer ist dieser Mann im Smoking eigentlich? Warum sieht er mich so an? Will ich ihn tatsächlich noch besser kennenlernen?» Auf alle Fälle hielt Ellen Cherry es für sicherer, das Wort Kunst nicht mehr in den Mund zu nehmen, bis sie in New York waren. Doch als das Thema am selben Tag doch noch zur Sprache kam, war Boomer derjenige, der es aufbrachte.
    Sie verließen die Stadt. Der letzte Frühlingsschnee in den Crazys würde dahinschmelzen und der berühmte Landschaftsmaler Russell Chatham weiter durchs Leben gehen, ohne seine Kollegin Ellen Cherry Charles kennengelernt zu haben. Sie lenkten den Truthahn nordostwärts und überquerten am späten Nachmittag den Missouri. «Weißt du, wer diesen Missouri wahnsinnig gern hatte?», fragte Boomer. «Weißt du, wer hier gelebt hat?»
    Thomas Hart Benton
, dachte Ellen Cherry. Da sie jedoch keinen Künstler erwähnen wollte, antwortete sie: «Nein, Schatz, keine Ahnung.»
    «Jesse James, der Gangster», sagte Boomer. «Der hat hier gelebt.» Er schwieg eine Weile, als hätte der Fluss ihm die Sprache geraubt und sie an einen weit entfernten Ort entführt. Dann sagte er: «Jesse James hat jede Menge Banken überfallen und noch mal so viele Züge. Er ist in Schießereien, Hinterhalte und weiß der Geier was noch geraten. Ein Bullenaufgebot, so groß wie ’ne Armee, war rund um die Uhr hinter ihm her, einschließlich Weihnachten. Und der gute Jesse hat nie auch nur ’ne Schramme abgekriegt. Doch eines Tages wurde er übermütig und wollte ein Bild aufhängen. Er stand auf einem Stuhl und war dabei, das hübsche Bild aufzuhängen und zu bewundern, als sich Robert Ford von hinten an ihn heranstahl und ihm ein Loch in den Schädel pustete. So viel zum Thema Kunst, würd ich sagen.»
    Wenig später blinzelte die Sonne durch die Pappeln, und der mit Schweigen gestopfte Truthahn erhaschte einen Blick auf sein eigenes Spiegelbild, das im Missouri schwamm.
    I & I

«Die Priester schickten nach der Hohepriesterin. ‹Irgendetwas stimmt nicht mit deinem Stock›, sagten sie zu ihr. ‹Er reagiert nicht auf den roten Fleck dort am Himmel.› Die Hohepriesterin machte die Probe aufs Exempel. ‹Es ist alles in Ordnung mit dem Stock›, erwiderte sie. ‹Diese Glut stammt von Menschenhand.›»
    Um Mitternacht waren alle Priester, Priesterinnen, Rabbis, Weisen und Ratgeber, die im Tempel Dienst taten, auf dem Dach versammelt und starrten angestrengt nach Norden und Osten. Mittlerweile gab es
drei
leuchtend rote Flecken am Himmel.
    Der verachtete alte Prophet Jeremias versuchte ebenfalls aufs Dach zu gelangen, doch jedes Mal, wenn sein stinkender grauer Bart über der obersten Stufe der Treppe erschien, drohte ihm jemand mit der Faust und jagte ihn wieder hinunter. ‹Es sind Babylonier!›, schrie Jeremias immer wieder. ‹Jahwe hat die Babylonier als Strafe gesandt, weil ihr seine Gesetze missachtet habt.›
    Jeremias hatte zumindest teilweise recht, und alle wussten es. Am Ende schickten sie einen Boten, um den König zu wecken. Kurz vor Morgengrauen stieg der König zum Dach empor. Dort stand er in seiner Robe aus phönizischem Purpur und sah seine vorgelagerten Festungen brennen. ‹Ergebt euch! Ergebt euch!›, kreischte der alte Jeremias. ‹Ergebt euch und nehmt Jahwes Urteil an, sonst wird Jerusalem zerstört.› Der König befahl, Jeremias eins mit Mr. Stick überzubraten, doch die Hohepriesterin, die nicht riskieren wollte, dass der Stock am Schädel des Propheten zerbrach, warf stattdessen einen Pantoffel nach ihm.
    In den meisten praktischen Belangen hatten die Babylonier schon seit zehn Jahren das Sagen in Judäa (dem südlichen Israel, du erinnerst dich?). Ungefähr wie die Sowjetunion in Polen oder der Tschechoslowakei das Sagen hatte, nehme ich an. Babylon erstarkte unter seinem mächtigen Führer Nebukadnezar. Du lieber Himmel, solche Namen gibt’s heutzutage einfach nicht mehr. Ronald, George, Gary, Jimmy oder schlicht Bill: Diese mittelmäßigen modernen Namen taugen doch nicht mal dazu, Nebukadnezar die Schuhe zu wienern. John ist ein Etikett, Nebukadnezar ein Gedicht. Ein Monument. Ein Schwarm von Killerbienen, die man in den Hallen des Alphabets losgelassen hat. Doch ich schweife ab. Nebukadnezar und seine Babylonier hatten Jerusalem bereits elf Jahre zuvor einmal überfallen, doch nachdem sie den Tempel geplündert und ihre Jutesäcke mit einigen der zehntausend Kerzenleuchter,

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