Salomon – Ein Engel auf Samtpfoten
den Weg hinauf und bog an einem Stoppelfeld ab. Das Licht wurde ungewohnt hell. Es lag ein Klang in der Luft, den ich noch nie gehört hatte. Wohin brachte Jessica mich?
Wir trabten über einen Hügel, der von stacheligen Grasbüscheln bedeckt war. Der Horizont leuchtete jetzt so blau, dass es mir vorkam, als würden wir direkt in den Himmel hineinlaufen. Ich folgte Jessica bis zu einer Kante. Da saßen wir dann und betrachteten voller Staunen die riesige türkisblaue Wasserfläche. Sie reichte bis zum dunkelblauen Horizont und war erfüllt vom Tosen der Wellen.
»Was ist das?«, fragte ich Jessica.
»Das Meer.«
Ich war überwältigt. Jetzt verstand ich, warum John immer so aufgeregt herumgesprungen war, wenn Ellen sagte, sie würden ans Meer fahren. Das Licht und der freie Raum versprühten pure Energie.
»Woher hast du das gewusst?«, fragte ich.
»In meinem letzten Leben war ich Schiffskatze«, sagte Jessica. »Das war schön! Das Schiff war wie ein riesiges schwimmendes Haus, und ich wohnte als einzige Katze dort. Einmal bin ich ins Wasser gefallen, und ein tapferer Matrose ist mir nachgesprungen und hat mich gerettet. Mir war ganz kalt, und mein Fell war total salzig. Danach haben sie mich aber sehr verwöhnt. Ich bin fett und faul geworden.«
»Und warum hast du mich heute hierher gebracht?«
Jessica blickte mich nachdenklich an. »Jede Katze sollte einmal in ihrem Leben das Meer sehen«, sagte sie. »Man muss einfach wissen, was für wunderbare Dinge es auf der Welt gibt.«
Ich betrachtete Jessica mit Hochachtung. Sie hatte mich als Belohnung hierher geführt, um mich von meinen Sorgen über den Verlust von Ellen abzulenken. Und es hatte mich tatsächlich abgelenkt. Mir ging es besser. Ich hatte neue Energie.
Als wir nach Hause trabten, über die Brücke und über die Felder, wurde ich aber wieder traurig.
Erst viel später erkannte ich, welch wundervolles letztes Geschenk Jessica mir mit diesem Ausflug ans Meer gemacht hatte.
10
Tagebuch einer verzweifelten Katze
Nach ein paar Wochen in der Wildnis wachte ich eines Nachts von schrecklichem Heulen und Kreischen ganz in der Nähe unseres Verstecks auf. Jessica war nicht in der Höhle. Manchmal verschwand sie früh morgens, um in der Dämmerung Mäuse zu jagen.
Ich kroch hinaus und lauschte. Über mir hingen die Sterne in den kahlen Ästen der Bäume und in den Zweigen, die aus einem Krähennest herausstanden. Es war still. Dann begann das Heulen und Schreien wieder, begleitet von den Kampfgeräuschen zweier Tiere.
Ich sah, wie Jessica ganz flachgestreckt auf mich zu rannte. Ihr schwarz-weißes Gesicht zeichnete sich deutlich zwischen den dunklen Bäumen ab. Sie kroch in unsere Höhle und brach zusammen. Sie hatte mit einer verwilderten Katze gekämpft und einen Genickbiss abbekommen. Jessica zitterte und atmete sehr schnell. Besorgt beschnupperte ich die Wunde in ihrem Nacken, die ich nicht berühren durfte.
Den ganzen Tag lag Jessica erschöpft in der Höhle, und ich musste allein losziehen, um Mäuse zu jagen. Ich brachte ihr eine mit, aber sie wollte nicht fressen. Sie wollte nur schlafen.
Ich untersuchte ihr Fell und befand, dass es ihr gar nicht gut ging. Sie war dünn, ihr Fell glanzlos. Auf dem Rücken hatte sie kahle Stellen. Ich sah allerdings auch nicht besser aus. Wir litten beide unter dem Leben im Freien bei kaltem, feuchtem Winterwetter. An manchen Tagen war das Wetter so schlecht, dass wir nichts zu fressen bekamen.
Jessica erholte sich nach ein paar Tagen wieder, aber sie entfernte sich nie weit von der Höhle. Und sie fraß nicht viel. Ich blieb bei ihr, fühlte mich aber zunehmend hilflos.
Dann fiel mir auf, dass sie sich dauernd hinlegte. Ihre Augen hatten jeden Glanz verloren, und die Wunde in ihrem Nacken eiterte. Ich wusste, wir würden Hilfe brauchen. Sie musste zum Tierarzt und eine Antibiotikaspritze bekommen wie ich damals. Dafür brauchten wir ein Auto und einen besorgten Menschen. Joe wäre dabei keine große Hilfe. Er hatte kein Auto mehr, und Pam besaß nur ein Fahrrad. Ich dachte an Karenza, aber wie konnte ich Jessica dorthin bringen?
Was würde Ellen zu dem ganzen Schlamassel sagen?
Ich war wütend und verzweifelt.
Mein Engel hatte versucht, mir zu sagen, dass ich Jessica gehen lassen sollte. Hatte er das damit gemeint? Dass ich meiner besten Freundin im kalten Dunkel des Waldes beim Sterben zusehen musste? Jessica war nicht nur meine beste Freundin, ich liebte sie. Wir hatten drei wunderbare Katzenkinder
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