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Salzträume 2: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)

Salzträume 2: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)

Titel: Salzträume 2: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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    Als die letzte Note verklang, berührte das schöne Mädchen vor ihr sie mit der Hand an der Kehle, und der Nebel, der sie einhüllte, wurde Wirklichkeit, ließ alles ringsum versinken.
    Cérise unterdrückte einen Schrei. Sie fühlte den Boden unter ihren Füßen nicht mehr, auch den Himmel über sich nahm sie nicht mehr wahr, und nicht die Begleiterinnen neben ihr. Sie war allein im Nebel. Es gab kein Oben, kein Unten, nur schwereloses Nichts, das auf sie einstürmte. Sie wußte, daß sie nie mehr so schön singen würde, wie sie es eben getan hatte, und Trauer ergriff von ihr Besitz. Ihr Herz hatte sie nach außen gesungen, und es hatte nicht gereicht.
    Corrisande schwankte und wirbelte. Wellen und Strömungen zogen an ihr, und eine überhebliche Männerstimme flüsterte ihr ins Ohr: „Du gehörst mir.“ Sie versuchte, den Sprecher auszumachen, doch sie fand ihn nicht. Da berührte er sie, schwimmhäutige Finger faßten an ihren Bauch, dorthin, wo die Mutter sie berührt hatte. Sie schrie und schlug um sich, traf nichts, stolperte weiter richtungs- und ziellos durch graue Wellen.
    Sophie fühlte sich unendlich alt. Dunkler Nebel hüllte sie ein wie ein Leichentuch. Sie starb, verdarb, schied altersschwach dahin. Ihre brüchigen Knochen zerbröselten unter dem Angriff der Zeit, und sie weinte bei der Erkenntnis, daß nun alles zu spät war, viel zu spät. Sie konnte nichts mehr bewirken, war zu alt, zu verbraucht, bedeutungslos geworden. Torlyn würde sie ansehen und die faltige, verrunzelte Alte nicht erkennen. Er würde sterben, ohne zu wissen, daß sie zu helfen versucht hatte. Thorolf würde ohne Mutter sein und ohne den Vater, von dem er nichts ahnte.
    Zwei Männer kamen den Weg entlang, auf dem die Frauen eben noch gestanden hatten. Sie trugen Jagdkleidung und Waffen.
    „Ich habe jemanden singen hören“, sagte der eine.
    „Aber hier ist niemand“, sagte der andere.
    Er hatte recht. Der Weg vor dem Schrein war leer.

Kapitel 4
    Charly hatte den Rest des Nachmittags ausgeruht. Sie war zu entkräftet gewesen, um auch nur einen Schritt weiter zu gehen, war gestolpert, hatte die Verbindung zu dem geheimnisvollen Mann neben ihr verloren. Er war unglücklich über den Zeitverlust. Je länger sie im Berg blieben, desto mehr wurde er zur Gefahr. Er mußte ihr das nicht erläutern. Sie wußte es.
    Er hatte ihr gesagt, wie sehr er ihre Tapferkeit und ihre Beharrlichkeit schätzte, ihren Willen, immer weiter durchs Dunkel zu wandern. Hand in Hand gingen sie durch den Berg, der sie so nahe zusammengebracht hatte, näher als Liebende, die nur ihre Freude miteinander teilten. Sie teilten Furcht, jeder seine eigene, die des Jägers, der mit einem milden Herzen gesegnet ist, die der Beute, die mit der Erkenntnis ihrer eigenen Hilflosigkeit verflucht ist.
    Der Tod war noch nicht unabwendbar. Noch konnten sie einen Ausgang finden. Einige kleine Öffnungen hatten sie gefunden, die dünne Lichtstrahlen durchließen. Er erlaubte ihr nicht, dort zu verweilen und dem Licht nachzuhängen, wußte, daß jede neue Enttäuschung sie schwächte. Die Zeit ging ihnen aus. Doch noch war er der höfliche, humorvolle Mann, der so viel wußte, der so stark war und eine geradezu elegante Macht verströmte.
    Sie waren gegangen, bis sie keinen Schritt mehr tun konnte. Ihr Hunger war längst als nichtig überwunden, nur manchmal spürte sie ein dumpfes Bauchgrimmen. Ihre Erschöpfung hatte ein Stadium erreicht, in dem ihr alles egal war, solange sie sich nur zusammenrollen und die Augen schließen konnte. Sie hatte ihm vorgeschlagen, daß er ohne sie weitersuchen sollte, doch er mochte sie nicht alleinlassen.
    „Warum nicht?“ erkundigte sie sich, und er hatte nur gesagt, daß etwas im Berg sei, das nicht hineingehöre.
    „Stimmt“, seufzte sie. „Wir beide.“ Doch seine Sorge hatte sie deutlich empfunden. Er hatte sie nicht alleingelassen, sei es, weil er sie in Gefahr glaubte, sei es, weil er inzwischen seine Beute nicht mehr gern aus den Augen ließ. Beides war möglich.
    Er half ihr, sich in den Mantel zu wickeln. Ein hilfsbereiter Kavalier mit guten Manieren. Ein Lied hatte er ihr gesungen, und sie hatte blind ins Dunkel gestarrt, an der Schwelle zur Übermüdung und doch zu aufgekratzt, um die Augen zu schließen. Einen flüchtigen Augenblick lang hatte sie eine Vision, fühlte, wie sie tief drunten in einem See trieb und durch das Wasser zu einem ärgerlichen, wild entschlossenen Fischer hinaufsah. Seine Züge wurden zu

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