Samtpfoten im Schnee
ergriff Justin das Wort. »Lasst uns ins Musikzimmer gehen. Ich glaube, Irene hat es arrangiert, dass einige der Damen uns etwas darbieten werden.«
»Ich hoffe doch sehr, ich darf mich darauf verlassen, dass Ihr die Seiten für mich umblättert«, sagte Miss Hamlin und warf ihm einen gezierten Blick zu.
»Aber natürlich«, erwiderte er höflich.
6. Kapitel
Der Weihnachtsball auf Everleigh war stets ein gesellschaftliches Ereignis großen Ausma-
ßes. Neben den ohnehin anwesenden Haus-
gästen hatte man eine große Zahl weiterer Gäste eingeladen -
jeden, der im weiten Umkreis einen Namen hatte. Einige wenige der Eingeladenen hatten mit Bedauern absagen müssen.
Zu diesem festlichen Anlass - dem ersten Ball, den sie seit dem Ende der Trauerzeit besuchte - trug Meghan ein schlichtes, aber überaus elegantes Kleid aus dunkelgrünem Samt. Dessen einziger Schmuck bestand in einem schmalen Besatz aus hellgrauem Pelz, der Ausschnitt und Saum zierte.
Glaceehandschuhe in demselben hellen Grau und eine ein-reihige Perlenkette mit den dazu passenden Ohrgehängen vervollständigten ihre Erscheinung.
»Betsy, du hast dich selbst übertroffen!«, rief Meghan aus, als die Zofe mit dem Frisieren fertig war. Meghans Haar war weicher frisiert, als sie es sonst trug, und schmeichelnde Locken umrahmten ihr Gesicht.
»Ja, nicht wahr?« Betsys Stolz war offensichtlich.
Der Ballsaal präsentierte sich in üppigem Festschmuck und war ein Fest für alle Sinne. Der harzige Duft der Dekorationen aus Weihnachtsgrün vermischte sich mit den würzi-gen Aromen, die diskret aufgestellte Dufttiegelchen verströmten. Die leuchtenden Farben der Garderobe der Damen hoben sich prächtig von den dunklen Abendanzü-
gen der Herren ab. Die Musik stimmte alle fröhlich und aus-gelassen. Die augenfälligste Dekoration war das riesige Gesteck aus Tannengrün und Mistelzweigen, das in der Mitte des Saales von der Decke herabhing. Das Licht zweier kunstvoller Kronleuchter und der vielen Kandelaber an den Sei-tenwänden wurde von gerahmten Spiegeln reflektiert, die in den Fensternischen hingen.
Trotz der Eleganz der Umgebung und der Garderoben war das Hauptanliegen des Balles, Freude zu bereiten. Jeder Tanz wurde dadurch unterbrochen, dass die Musik unvermutet abbrach und die Tanzenden an ihrem Platz verharren mussten. Das Orchester stimmte dann eine kleine Weise an, zu der die ganze Gesellschaft sang:
»Schaut und seht's als Fingerzeig:
Wer steht unter dem Mistelzweig?«
Unter vielem Lachen und Rufen der Zuschauenden erfüll-te dann das Paar, das an dieser strategisch bedeutungsvollen Stelle stand, was die Tradition von ihm verlangte.
Meghan vermutete, dass eine Reihe der jungen Damen und Herren es einzurichten versuchten, gerade unter dem Mistelzweig zu stehen, wenn die Musik abbrach - aber auch das war Teil des Vergnügens. Der Abend war schon weiter fortgeschritten, als es ihr selbst widerfuhr. Als Meghan spä-
ter darüber nachdachte, konnte sie die Vermutung nicht ganz ausschließen, dass Irene ihre Hand dabei im Spiel gehabt hatte, denn die Freundin hatte neben dem Kapellmeis-ter gestanden, als die Musik abbrach.
Es war ein Walzer, den sie mit Justin tanzte. Von dem Augenblick an, in dem er den Arm um sie gelegt hatte, konnte Meghan spüren, wie sich alle ihre Sinne anspannten. Sie war ohnehin ärgerlich auf sich selbst, seit ihr klar geworden war, dass sie sich von Anfang an seiner eleganten Abendkleidung
- und der Art, wie er sie trug - viel bewusster gewesen war als die der anderen Herren.
Ihre Unzufriedenheit mit sich selbst hatte sich verstärkt, als sie Miss Hamlin mit Justin hatte tanzen sehen und es dieser gelungen war, ihn irgendwie zur rechten Zeit unter den Mistelzweig zu bugsieren. Mit einem entzückten Lä-
cheln auf den Lippen hatte die junge Schönheit die Arme um seinen Hals geschlungen und sich übertrieben an ihn gelehnt, damit er sie küsste. Justin hatte gelacht und sie rasch geküsst. Lachte er über das Mädchen? War die liebreizende Georgina über die Kürze des Kusses enttäuscht? Und warum fühlte gerade sie, Meghan Kenwick, einen schmerzlichen Stich im Herzen beim Anblick dieses Paares? Bei anderen Paaren hatte sie nicht so reagiert.
Und jetzt war sie hier - in den Armen eines Mannes, über dessen Einfluss auf ihr Leben sie sich einst gegrämt hatte.
Und irgendwie fühlte es sich völlig richtig an, unbeschreiblich schön. Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als sie seine Stimme hörte - und das
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