Samuel Carver 02 - Survivor
bei Narvik an der Nordwestküste Norwegens innerhalb des Polarkreises. Weite Teile Europas mochten bereits frühlinghaft grün sein, doch hier oben hatte der Winter die eiskalte Faust noch nicht gelockert.
Die Spur führte mitten zwischen Gruppen kleinwüchsiger Birken hindurch, und so erreichten sie nur selten Laufgeschwindigkeit. Carver hatte Mühe, einen Rhythmus zu finden, wenn er die Hacken hob, um auf den metallgefassten Militärskiern vorwärts zu gleiten, und dabei die Stöcke in den festgefrorenen Schnee stemmte.
Larsson bewegte sich schon seit frühester Kindheit auf Skiern. Während seiner Zeit als Geheimdienstoffizier der norwegischen Streitkräfte hatte er eine Winterausbildung erhalten. Er glitt mühelos voran und sorgte dafür, dass er stets weit voraus blieb, egal, wie sehr Carver sich auch anstrengte, ihn einzuholen.
Sie hatten einen weiteren Kilometer zurückgelegt, als sie zu einem Schießstand kamen, der am Weg lag, sodass Biathleten Schießen und Skifahren unter Wettbewerbsbedingungen trainieren konnten. Carver folgte Larsson auf das Gelände, zog das Anschütz-Fortner-Biathlon-Gewehr heraus, das er auf den Rücken geschnallt hatte, und warf sich vor einer der Schießbahnen auf den Bauch.
»Fünf Schüsse, Schnellfeuer«, sagte Larsson. »Du hast fünfundzwanzig Sekunden.«
Carver versuchte, den Lauf auf das Ziel zu richten: fünf weiße Scheiben vor schwarzem Hintergrund. Seine Muskeln waren übervoll mit Milchsäure, sodass seine schmerzenden Arme protestierend zitterten, als er die Waffe still und gerade halten wollte. Schweiß floss ihm in die Augen. Er brauchte vierzig Sekunden, um seine Schüsse abzugeben. Beim letzten hatte er kaum noch die Kraft, die nächste Patrone zu laden. Und dann traf er die Nachbarscheibe, auf die er nicht gezielt hatte.
»Nicht gut genug«, sagte Larsson. »Nimm den nächsten Clip.«
In einer Halterung an der rechten Seite der Waffe, ein paar Zentimeter vor dem Abzug, steckten noch drei Magazine mit je fünf Schuss. Carver lud nach und stellte sich dabei an wie ein neuer Rekrut.
»Zwanzig Sekunden«, sagte Larsson. »Und diesmal gibst du die Schüsse innerhalb des Limits ab, sonst läufst du noch eine Runde.«
Carver fühlte sich an eine andere Zeit und an einen anderen Ort erinnert. Er dachte an die Zwanzig-Meilen-Läufe, die er während seiner Ausbildung bei den Marines im Lympstone Commando Training Centre durchmachen musste, und an die anstrengenden Trainingseinheiten – sie grenzten an institutionalisierten Sadismus –, die ihnen von den Ausbildern aufgebrummt wurden, welche die Auswahl für den Special Boat Service überwachten.
Die hatten ihn nicht kleingekriegt, und er würde sich auch nicht von diesem zu groß geratenen Computerfreak zum Trottel machen lassen.
Für die nächsten fünf Schüsse brauchte er einen Bruchteil länger als neunzehn Sekunden. Er traf zwei Scheiben mehr.
Carver drehte sich auf den Rücken, um Ellbogen und Bizeps zu entlasten, die seinen Oberkörper und das Gewehr hatten tragen müssen.
Larsson sah mit verächtlich gekräuselten Lippen auf ihn herunter. »Du hast noch einmal zwanzig Sekunden, um wieder in Position zu gehen, neu zu laden und die verbliebenen Scheiben zu treffen. Es bleibt dabei: bei Versagen neue Runde.«
Vor zehn Jahren hätte Carver es in fünf Sekunden geschafft. Während des Kalten Krieges waren die Royal Marines die Spezialisten der britischen Streitkräfte für die Kriegsführung in der Arktis gewesen. Er hatte als junger Lieutenant mit der 45. Kommandoeinheit in Beisfjord an der Winterausbildung teilgenommen. Noch von damals trug er seine alten ledernen Skistiefel, die eisenhart gewesen waren, als er sie das erste Mal benutzt hatte, die sich aber inzwischen seinen Füßen und Fußgelenken genau angepasst hatten. Er hatte sogar für die olympiataugliche Biathlon-Mannschaft der Marines trainiert, bevor der SBS ihn rief. Aber jetzt …
»Los!«, rief Larsson, den Blick auf seine Uhr geheftet.
Carver rollte sich zurück auf den Bauch, packte das Gewehr, riss das leere Magazin heraus und griff nach dem Ersatz. Handgriffe, die ihm früher einmal in Fleisch und Blut übergangen waren, kamen ihm jetzt fremd vor. Früher war alles automatisch gegangen, jetzt musste er bei allem überlegen und eine quälende Bewegung nach der anderen ausführen. Seine Hände zitterten vor Kälte und Erschöpfung. Der Schweiß brannte ihm in den Augen, sodass er das Ziel kaum noch erkennen konnte.
»Noch fünfzehn
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