Samuel Carver 02 - Survivor
Auftrag war nicht nur eine Herausforderung, die Grantham ihm vor die Füße geworfen hatte, Carver spürte auch einen unwiderstehlichen Drang. Er musste sie zurückbekommen.
Auf dem Unterdeck ging am Heck eine Tür auf und zwei Männer der Besatzung kamen heraus, um ein etwa drei Meter langes Schnellboot zu manövrieren, das zu Wasser gelassen worden war. Vermulen gab Aliks ein Zeichen, und die beiden gingen ins Schiffsinnere. Eine Minute später tauchten sie unten neben den beiden Crewmitgliedern wieder auf.
Der General trug eine schwarze Lederaktentasche. Er wollte gerade in das Schnellboot steigen, als Aliks ihn zurückhielt, um den Kragen seines hellblauen Hemdes zurechtzurücken und so lange daran herumzufummeln, bis sie zufrieden war. Es war eine sehr weibliche, besitzergreifende Geste: eine Frau, die ihren Anspruch auf den Mann bekräftigt, bevor sie ihn zum Abschied küsst und in die Welt hinauslässt.
Carver spürte einen Stich, dann sagte er sich: Reiß dich zusammen. Das ist ihr Beruf, sie spielt Männern vor, dass sie ihr etwas bedeuten. Aber mit dir ist es echt.
Aliks winkte Vermulen nach, als der in das Schnellboot stieg, das ihn zu dem Anleger am Fuß der Klippe brachte. Er sprang an Land, dann ging er die steilen Stufen zum Restaurant hinauf.
Carver stand auf, um ihn zu begrüßen. Er wollte dem Mann direkt ins Gesicht sehen, der mit seiner Geliebten schlief und den er vielleicht würde töten müssen. Er wollte genau wissen, was für einen Rivalen er vor sich hatte.
Vermulens Gesicht war ein bisschen voller als auf dem Dienstfoto, die Kinnlinie nicht mehr ganz so kantig. Sein volles Haar, das er aus der Stirn gekämmt trug, hatte genauso viel Grau wie Blond, und er hatte einen kleinen Bauch angesetzt. Doch nichts davon schmälerte die tatkräftige, entschlussfreudige Ausstrahlung, die die Luft um ihn aufzuladen schien. Im Gegenteil, sie trugen zu der Wirkung bei und verliehen ihm das Bezwingende eines Mannes, der sein Leben auskostet, der alles nimmt, was die Welt ihm bietet, der die Zuversicht besitzt, dass er mit den Umständen oder Personen, denen er begegnen mag, fertig wird.
Der General streckte Carver den gebräunten Arm entgegen und gab ihm einen kräftigen Händedruck. »Hallo. Kurt Vermulen«, sagte er. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Kenny Wynter«, sagte Carver. »Ganz meinerseits.«
Vermulen bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick, als wäre Carver ein Rekrut beim Appell. Sie setzten sich, die Aktentasche bekam einen Platz zwischen ihnen. Der General winkte dem Kellner.
»Bringen Sie uns eine schöne Auswahl Meeresfrüchte, Hummer, Austern, alles, was frisch und gut ist. Dazu hätten wir gern einen grünen Salat mit Brot und Butter.« Er blickte über den Tisch. »Sind Sie damit einverstanden?«
Das war eine rein rhetorische Frage. Der Offizier übernahm das Kommando. Mit einem Achselzucken gab Carver seine Zustimmung.
»Gut«, sagte Vermulen. »Ich trinke mittags keinen Alkohol. Wir werden eine große Flasche stilles Wasser nehmen. Es sei denn, Sie möchten ein Glas Wein, Mr Wynter …«
»Keine Bange«, erwiderte Carver, der sich in seine Rolle eines ehemaligen Nordlondoner Straßenjungen hineinfinden musste, der es mit seinem Verstand bis nach Oxford gebracht hatte und dessen kriminelle Begabung ihm das unabhängige Leben eines klassenlosen Reichen bescherte. »Ich bin geschäftlich hier, nicht zum Saufen.«
»Und Ihr Geschäft besteht darin, sich anzueignen, was Ihnen nicht gehört?«
Wynter hätte sich die Pointe nicht entgehen lassen, und darum tat Carver es auch nicht. »Ich dachte, das amerikanische Militär wäre in derselben Branche.«
Vermulen lachte. »Touché, Mr Wynter.«
In dieser Art und Weise unterhielten sie sich weiter. Jeder wollte sehen, aus welchem Holz der andere geschnitzt war. Dann kam das Essen, eine Platte mit Hummern, Langusten, Austern und Filets vom Wolfsbarsch. Als die Teller gefüllt und das Wasser eingeschenkt war, wurde Vermulen ernst.
»Sie sind ein gebildeter Mann, Mr Wynter, darum werden Sie sicher verstehen, wenn ich sage, dass wir meiner Ansicht nach in einer Zeit leben, die an das alte Rom am Ende des vierten Jahrhunderts erinnert. Unsere Zivilisation ist noch intakt, unser Wohlstand größer denn je. Aber unsere Willenskraft zerfällt. Und ringsherum dämmert ein dunkles Zeitalter herauf. Feinde streifen umher, Völker sind in Bewegung. Sie spüren unsere Schwäche und warten auf den geeigneten Moment zum
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