Samuel Carver 04 - Collateral
zu gelangen.
Carver konnte Mabeki deutlich auf dem Fahrersitz erkennen, aber von Zalika war nichts zu sehen. Entweder hatte er ihr befohlen, sich zu ducken ... Nein, das war es nicht. Es waren nicht zwei Wagentüren gewesen, die Carver gehört hatte, sondern die Kofferraumhaube und die Fahrertür. Der Scheißkerl hatte sie in den Kofferraum gesteckt. Darum fuhr Mabeki so zimperlich. Eine plötzliche Lenkbewegung, und Zalika würde herumgeschleudert wie eine Katze im Wäschetrockner. Mabeki wollte die Ware nicht beschädigen.
Das eröffnete Carver eine winzige Handlungsmöglichkeit. Er stand auf der obersten Stufe vor der Haustür und legte beidhändig auf ihn an. Die Pistole war ein chinesisches Modell mit einem kommunistischen Stern am Griff, eine QSZ-92 mit fünfzehn 9-mm-Patronen im Magazin. Der Rolls kehrte ihm jetzt die Flanke zu – eine bessere Schusslinie würde er nicht mehr kriegen und keine, die so sicher war. Das war die Chance, die Sache schnell zu beenden.
Er zielte. Sein Finger krümmte sich um den Abzug, zog sacht ...
Carver senkte die Waffe. Eine 9-mm-Kugel auf ein gepanzertes Fahrzeug abzugeben war nutzlos. Der Rumpf war damit nicht zu durchdringen. Auch von der Fensterscheibe würde sie abprallen, ohne einen Kratzer zu hinterlassen. Er würde gar nichts erreichen, außer Lärm und ungewollte Aufmerksamkeit.
Mabeki wusste das auch. Er drehte den Kopf, beugte sich nach vorn und schaute durch die Beifahrerscheibe. Dann verzog er die Mundwinkel, winkte spöttisch und trat aufs Gas. Man kann nicht sagen, dass die 6,7-Liter-Maschine des Rolls aufheulte, etwas so Vulgäres tat ein Rolls-Royce nicht, aber auch ohne spektakuläres Geräusch stellte sich die Wirkung ein. Der massige Wagen machte einen Satz und verschwand aus dem Blick.
Carvers erster Impuls war, zum Honda zu rennen und sofort die Verfolgung aufzunehmen, aber er widerstand auch diesmal der Versuchung. Stattdessen ging er ins Haus zurück und ins Wohnzimmer. Dort inmitten des Gestanks nach Kordit und Scheiße sammelte er die Gerätschaften, die er zum Lesen der Messe benötigt hatte, ein und packte alles in die Ledertasche. Er sollte nicht so viele Fingerabdrücke hinterlassen, wenn es nicht unbedingt sein musste.
Dagegen war es sinnvoll, die Pistole zurückzulassen, damit die Ermittlung der Polizei erst einmal in die Irre ging. Carver wischte die Waffe ab, indem er sie mit einem Taschentuch am Lauf festhielt, und drückte sie dem toten Besitzer wieder in die Hand. Insgesamt blieb er dreißig Sekunden in dem Raum, bevor er ihn verließ. Mit dem Taschentuch zog er die Haustür hinter sich zu und ging zielstrebig zu seinem Wagen. Er stieg ein und legte die Ledertasche offen in den Fußraum vor den Beifahrersitz. Dann schaltete er an seinem Telefon auf eine andere Anwendung, und zum ersten Mal an diesem Tag schickte er ein ernst gemeintes Dankgebet zum Himmel: Zalikas Handy war eingeschaltet, und es bewegte sich gleichmäßig von dem Grundstück weg. Vorerst gab es keinen Grund, hektisch zu werden. Er konnte Mabeki in sicherem Abstand folgen.
Carver fuhr bergab zum Haupttor und verließ die Wohnanlage. Vor ihm lag eine kurvige Landstraße, wo rechts und links Wald mit dichtem Unterholz stand und außer ihm keiner entlangkam. Nach anderthalb Kilometern rollte er an den Straßenrand und stieg mit der Ledertasche aus. Er blickte sich um, ob ihn niemand sehen konnte, dann ging er zwanzig Schritte in den Wald und schob die Tasche in einen undurchdringlichen Busch. Als von ihr nichts mehr zu sehen war, kehrte er zur Straße zurück, horchte einen Moment lang auf Motorengeräusche, dann trat er auf den Asphalt und stieg in den Wagen.
Er schaute auf sein Handydisplay und runzelte die Stirn. Mabeki war auf den Tolo Highway gelangt, aber anstatt nach rechts in Richtung Stadt zu fahren, wie Carver erwartet hatte, war er nach links eingebogen und hielt nach Norden auf die chinesische Grenze zu.
Das könnte die Sache verkomplizieren. Plötzlich durfte Carver sich nicht mehr erlauben, so gelassen zu sein. Der Honda fuhr weiter, aber mit durchgetretenem Gaspedal.
66
Gut elftausend Kilometer westlich von Hongkong lag die malembische Hauptstadt Sindele. Sie gab noch vor, das Zentrum eines modernen, funktionierenden Staates zu sein. Sie hatte ein zentrales Banken- und Geschäftsviertel, das in einem Autobahnring lag. Dessen Kreuzungen führten zu vierspurigen Prachtstraßen und Bürohäusern mit zehn oder zwanzig Stockwerken. Es gab prunkvolle
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