Samurai 1: Der Weg des Kämpfers (German Edition)
und wurde stark. Seine Fühler zuckten im Wind.
Aus dem Nichts schlug eine schwere Eisenstange krachend auf die Blüte. Der Schmetterling konnte dem Tod im letzten Augenblick entrinnen. Ein riesiger roter Dämon brach donnernd durch das Gebüsch und schwang die Stange wie besessen hin und her, um den Schmetterling zu erwischen, der von einer Blüte zur nächsten flatterte.
Der zarte Schmetterling wich den Schlägen immer wieder mühelos aus. Schweiß strömte dem roten Dämon über das Gesicht und er runzelte böse die Stirn. Wütend schlug er fast ununterbrochen auf den Schmetterling ein, bis er zuletzt vor lauter Anstrengung auf der nackten Erde zusammenbrach. Der Schmetterling mit den blau schillernden Flügeln entkam ungeschoren …
Jacks Augen öffneten sich zuckend.
Ein Weihrauchfaden stieg träge zur Decke seines kleinen Zimmers auf. Der rote Daruma stand neben dem Bonsai auf dem schmalen Fenstersims. Das einzelne Auge der Puppe starrte Jack harmlos an.
Jack atmete keuchend, noch ganz benommen von der Klarheit seiner Vision.
Das Erreichen der dritten »Ansicht«, des Zustands geistiger Ruhe und Reinheit, bereitete ihm bei seinen morgendlichen Meditationen keine Schwierigkeiten mehr. Mit ihrer Hilfe konnte er den Rest des Tages klar denken, doch eine Vision wie diese hatte er noch nie gehabt. Warum hatte er einen Dämon und einen Schmetterling gesehen? Was bedeutete das, wenn es überhaupt etwas bedeutete? Auf jeden Fall ging die Vision weit über das hinaus, was er im Unterricht gelernt hatte. Er musste mit Sensei Yamada sprechen.
Jack stand auf und streckte sich. Dann nahm er ein kleines Gefäß, das unter dem Fenster stand, und goss daraus ein wenig Wasser über den Bonsai. Er hatte das nach Uekiyas Anweisungen bisher jeden Morgen so gemacht. Der alte Gärtner wäre zufrieden gewesen, dachte er. Zumindest lebte der kleine Baum noch.
Beim Gießen bemerkte er, dass sich an den Ästen winzige, rosafarbene Blütenknospen gebildet hatten. Dieselben Knospen hatte er in seiner Vision gesehen. Kirschblüten.
Offenbar hatte der Frühling begonnen.
Jack konnte es nicht fassen. Er war bereits länger als ein Vierteljahr an der Schule und fast ein Dreivierteljahr in Japan. Seit fast drei Jahren war er jetzt von England fort! Und er führte ein ganz anderes Leben. Er war kein Kind mehr, das davon träumte, wie sein Vater Steuermann zu werden, sondern ein Junge, der zum Samurai ausgebildet wurde!
Er stand jeden Morgen noch vor der Dämmerung auf und meditierte ein halbes Räucherstäbchen lang. Dann nahm er gemeinsam mit den anderen Schülern das immer gleiche, fade Frühstück aus Reis und etwas essigsaurem Gemüse ein. Was hätte er nicht für eine Scheibe englischen Speck und Spiegeleier gegeben!
Dann begann der Unterricht, bestehend aus zwei langen Einheiten, einer am Morgen und einer am Nachmittag. An einigen Tagen lernten sie Schwertkampf und Zen, an anderen den Kampf ohne Waffen und Bogenschießen. Nach dem Training versammelten sie sich in der Halle der Schmetterlinge zum Abendessen. Die Sensei saßen dabei am Kopftisch und blickten von dort wie geheimnisvolle Kriegergottheiten auf ihre Schützlinge herunter.
Nach dem Abendessen sollten sie das tagsüber Gelernte für sich üben. Lernt heute, auf dass ihr morgen lebt, lautete das Mantra, das ihnen ununterbrochen eingebläut wurde.
Doch trotz des geregelten Tagesablaufs und der strengen Disziplin musste Jack zugeben, dass er mehr mit sich im Reinen war als seit Langem. Der tägliche Gleichtakt wirkte an sich schon beruhigend. Jack war kein unabhängiges Rad, das sich ohne Ziel und Richtung drehte, sondern er lernte, sich zu verteidigen, nach dem Kodex des Bushido zu leben und wie ein echter Samurai zu denken.
Er konnte sein Übungsschwert bereits mit Kraft und Genauigkeit führen und hatte die ersten drei Angriffsschläge gemeistert – die Einzigen, die ihr je brauchen werdet, wie Sensei Hosokawa sagte.
Jack konnte mit Pfeil und Bogen schießen, obwohl er die Zielscheibe erst ein paarmal getroffen hatte, ganz im Unterschied zu Akiko, die offenbar mit einem Bogen in der Hand geboren worden war.
Und er konnte treten, schlagen, abblocken und werfen. Zugegeben, er beherrschte nur die grundlegendsten Techniken, aber er war nicht mehr wehrlos. Wenn er Drachenauge das nächste Mal begegnete, war er nicht mehr der hilflose Junge, der seinen Vater nicht hatte retten können, sondern ein Samurai!
Seit dem Kampf mit Kazuki in der Buddha-Halle hatte sich
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