Samurai 4: Der Ring der Erde (German Edition)
während er wie ein Seiltänzer auf einem unsichtbaren Seil entlangbalancierte. Sie kamen nur langsam voran. Und je länger sie brauchten, desto mehr fürchtete Jack, eine Wache könnte sie entdecken. Durch diese Vorstellung abgelenkt, verlor er mitten in einem Schritt das Gleichgewicht. Er schwankte auf einem Fuß, ruderte mit den Armen und versuchte verzweifelt, an der richtigen Stelle aufzutreten.
Miyuki war so auf ihre Aufgabe konzentriert, dass sie davon nichts mitbekam. Jack kippte zur Seite, konnte sich aber mit der Hand an der Wand abstützen und das Gleichgewicht wiedererlangen. Mit einem stummen Seufzer der Erleichterung folgte er Miyuki weiter und passte jetzt noch besser auf.
Der Gang schien kein Ende nehmen zu wollen. Da blieb Miyuki stehen.
Sie waren an Gemnans Tür angelangt, dem letzten Hindernis vor ihrem Ziel. Miyuki zeigte auf das Bodenbrett unmittelbar vor der Schiebetür. »Das ist bestimmt festgemacht«, flüsterte sie.
Sie traten beide darauf. Alles blieb stumm.
Während Miyuki die Laufschienen ölte, drückte Jack lauschend das Ohr an die Papiertür. Von drinnen hörte er ein regelmäßiges, pfeifendes Atemgeräusch.
Vorsichtig schob Miyuki die Tür auf. Im Zimmer brannte flackernd eine einzige Kerze. Es war mit fein gewobenen Strohmatten ausgelegt. In der Mitte lag Gemnan auf einem Futon. Eine zerknitterte Decke bedeckte seinen ausgemergelten Körper. Unter seinem Kopfkissen ragte der Griff eines Messers hervor. Daneben lag ein Schlüsselbund.
Jack hoffte inbrünstig, dass einer der Schlüssel das Gitter der Grube aufschloss. Als ob ich ein Kopfkissen stehlen würde, rief er sich ins Gedächtnis. Er betrat das Zimmer und ging lautlos zu Gemnan. Miyuki behielt den Gang im Auge.
Lautlos wie ein Geist näherte er sich dem schlafenden Foltermeister.
Seinen früheren Peiniger erneut so nah vor sich zu sehen, ließ ihn erschaudern. Im flackernden Kerzenschein sah Gemnan mit seinem bleichen Gesicht aus wie eine Leiche. Nur sein schwerer Atem verriet, dass er lebte.
Jack streckte die Hand aus und schloss die Finger um die Schlüssel. Unendlich vorsichtig hob er sie auf. Trotzdem klirrten sie leise. Gemnan schnaubte und wandte ihm das Gesicht zu. Jack erstarrte. Doch sein Feind hatte sich nur im Schlaf bewegt und das pfeifende Atemgeräusch setzte bald wieder ein.
Jack wollte nicht länger verweilen als notwendig. Lautlos steckte er die Schlüssel ein und wandte sich zum Gehen. Da blitzte im ersterbenden Schein der Kerze plötzlich die Klinge eines Messers auf. Jack packte die Hand und wollte ihr das Messer entwinden.
Doch Miyuki ließ nicht los. Sie war fest entschlossen, Gemnan zu töten. Ihre schwarzen Augen funkelten vor Hass. Die Spitze des Messers schwebte über Gemnans Herz, während Jack und Miyuki stumm miteinander kämpften.
Sie ist verrückt geworden!, dachte Jack. Ein ungeplanter Mord konnte die ganze Unternehmung gefährden. Hanzo und die anderen mussten befreit werden, das hatte absoluten Vorrang.
Miyuki versuchte noch einmal, Gemnan das Messer in die Brust zu stoßen, doch Jack konnte es ihr gerade noch aus den Händen winden. Miyuki sah zuerst ihn und dann Gemnan böse an. Sie schien den Mann mit bloßen Händen erwürgen zu wollen, Jack packte sie stumm, zerrte sie aus dem Zimmer und zog die Schiebetür hinter ihnen zu. Gemnan, der von alledem nichts mitbekommen hatte, schlief indessen dahinter friedlich weiter.
Miyuki schäumte, schwieg aber. Jacks Herz raste vor Schreck. Aus Angst, den Foltermeister aufzuwecken, bedeutete er Miyuki stumm, ihm auf dem Nachtigallenboden vorauszugehen.
Angespannt traten sie den Rückweg an. Jack fürchtete, Miyuki könnte vor Wut nicht mehr auf den Weg achten, und er behielt Recht. Auf dem letzten Brett trat sie daneben und es zwitscherte laut. Miyuki zog den Fuß sofort wieder zurück, aber es war geschehen.
An der Treppe angekommen, warf Jack einen Blick zurück. Weder Gemnan noch eine Wache ließ sich blicken. Aber ein Riss ist ein Riss, dachte er.
Er wollte nicht schon wieder riskieren, zwischen den schlafenden Samurai hindurchzuschleichen, und öffnete deshalb einen Fensterladen der äußeren Mauer. Sie kletterten durchs Fenster auf das Dach. Jack schloss den Laden wieder, dann konnte er sich nicht länger beherrschen.
»Was fällt dir ein?«, zischte er. »Zenjubo sagte, wir sollten keine Spuren hinterlassen!«
Miyuki zitterte am ganzen Leib vor Erregung. »Dieser Mann hat meine Familie getötet!«, flüsterte sie. Aus jedem
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