Sanctum
kniete sich unerschrocken vor der Bestie nieder, öffnete Kragen und Hemd und breitete die Arme aus. Was er sprach, verstanden weder Jean noch Sarai – aber seine Absicht war eindeutig!
Jean erinnerte sich an die Erklärungen des alten Marquis. »Mir wurde gesagt, dass der Orden nach der vermeintlichen Göttlichkeit strebt, die in jedem Werwolf steckt. Einer von vielen Sagen nach hat Zeus sie erschaffen«, erklärte er Sarai, damit sie verstand, was vor sich ging. »Das muss das Ritual sein, von dem ich gehört habe: Entweder werden die Ordensleute gebissen und somit in ihren Augen göttlich oder …«
Die Bestie hatte sich entschieden.
Sie sprang gegen den Mann und riss ihm die Kehle auf. Das Blut spritzte heraus, doch der Loup-Garou ließ sich davon nicht aufhalten. Gierig biss er Stücke aus dem weichen Hals, brach den Bauch mit spitzen Reißzähnen auf und schlang die Innereien gierig hinab; dabei knurrte und fauchte die Bestie unentwegt, ließ all ihren Hass auf Jean und die Seraphim an dem Menschen aus, der ihr das Leben gerettet hatte.
Der Mann schrie nicht. Alles, was aus seinem Mund kam, waren unverständliche Laute und unglaubliche Mengen Blut, die durch die Reste der Luft-und Speiseröhre nach oben schwappten. Vermutlich sah er es als Ehre an, der Bestie als Stärkung zu dienen.
Jean ballte die Hände zu Fäusten. Vor seinen Augen erhielt der bereits für besiegt gehaltene Feind neue Kraft zurück – und er vermochte nichts dagegen zu unternehmen. Die Überzahl an gegnerischen Musketen war zu groß.
Die übrigen Ordensmitglieder zogen sich etwas von dem Schauspiel zurück. Jean sah an ihren Gesichtern, dass sie das nicht aus Angst, sondern aus Respekt vor dem fressenden Gott taten; sie wollten ihn bei seinem Mahl nicht bedrängen und stören.
Da erklangen laute Rufe und sofort danach Schüsse. Zwei der Ordensleute brachen getroffen zusammen. Die übrigen Männer wandten sich um und eröffneten das Gegenfeuer.
»Das sind nicht die Seraphim.« Jean hörte es sofort am Geräusch der zuerst erklungenen Waffen. Sie trugen nur Pistolen mit sich, er hatte jedoch das tiefere Rumpeln von Musketen vernommen.
»Die Stadtwache wird angerückt sein.« Sarai sah, wie sich die Bestie mit blutiger Schnauze von dem Kadaver löste und sich in die Halbform verwandelte. »Verdammte Brut! Sie will sich absetzen.« Sie öffnete die Tür, aber sofort wirbelte einer der Ordensmänner herum und schoss nach ihr.
Sarai duckte sich und schloss den Ausgang, die Kugel trat zwei Handbreit über ihr durch das Holz und überschüttete sie beide mit Splittern. Es war Wahnsinn, die Kammer zu verlassen.
Durch das Loch sah Jean, wie die Bestie sich vom Boden abstieß und vier Schritte hoch sprang, sich an hervorstehenden Backsteinen festhielt und sich immer weiter nach oben arbeitete, bis sie auf dem Dach des Gebäudes verschwunden war.
Das Schießen ließ nach.
Sarai öffnete die Tür wieder einen Spalt. Sie sahen den von Leichen übersäten Hof, dazwischen liefen Männer umher, die Musketen mit Bajonetten darunter trugen – und immer wieder auf die leblosen Körper einstachen, um sicherzugehen, dass keiner überlebte.
Jean neigte den Kopf nach vorn und schob die Tür gefährlich weit auf, um besser sehen zu können. Ihm fiel sofort auf, dass es sich bei den Männern nicht um die Stadtwache handelte, es gab weder Uniform noch Abzeichen. Ein hellblonder Mann in dunkler Kleidung stand unbeweglich mitten in dem Treiben und hob den Kopf zu den Dächern; dabei verrutschte das Tuch vor seinem Gesicht.
»Das ist Francesco!«, flüsterte er Sarai zu. »Sieh, der Mann mit der doppelläufigen Muskete und dem glänzenden Bajonett, das ist der Legatus, der Florence entführte!«
Die Seraph zog die Tür behutsam wieder zu. »Monsieur, seid leise oder wir werden den Beistand aller Heiligen benötigen, um lebend aus dieser Lage zu entkommen.«
Jean versuchte, den Legatus mit seinen Blicken zu töten. Was er erreichte, war, dass Francesco unvermittelt seinen Kopf wandte und genau in Richtung der Tür blickte.
Jean hielt den Atem an.
Der Legatus legte die Stirn in Falten. Er machte einen Schritt auf das Versteck zu und hob die Hand, um einen seiner Männer an seine Seite zu beordern – als von draußen ein lang gezogenes Wolfsheulen erklang. Gleich darauf folgten mehrere Schüsse und ein schriller Schrei. Ein Todesschrei.
Francesco fluchte, brüllte einen Befehl und rannte vom Hof; die Mehrzahl seiner Leute folgte.
Zwei blieben
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