Sanctum
Mördergrube, aber wie in jeder großen Stadt gab es hier Verbrechen und Tote, über die sich in kürzester Zeit die abenteuerlichsten Spekulationen und Gerüchte verbreiteten. Nur über das Wüten der Bestie wurde nichts bekannt. Dabei musste man die Leichen inzwischen gefunden haben. Lentolo bog nach längerem Marsch in die nächste Straße ab und sie verloren ihn für einen Moment aus den Augen. Als sie um die Ecke bogen, sahen sie ihn gerade noch in einem Haus verschwinden. »Ich glaube, wir haben unser Ziel erreicht«, mutmaßte Gregoria. Und richtig: Als sie den Eingang erreichten, stand die Tür einen Spalt breit für sie offen.
Jean nahm das Reisigbündel von der Schulter und hielt es so, dass seine Hand zwischen den dürren Zweigen verschwand und am Abzug der Muskete lag. Er machte den Anfang und trat ein, Gregoria folgte ihm. Kaum war sie einen Schritt über die Schwelle getreten, wurde die Tür hinter ihr zugestoßen. Sie erschrak. Aus der Dunkelheit des Raumes traten fünf Wachen mit Tüchern vor dem Gesicht und Pistolen in den Händen hervor. Hinter ihnen konnte sie Lentolo erkennen, der gerade den Käfig mit den Hühnern abstellte.
»Die Anwesenheit unserer Freunde hier ist reine Vorsichtsmaßnahme«, entschuldigte er sich, während er auf die Bewaffneten zeigte. »Ich bitte Euch, alle Waffen abzulegen … . einschließlich des Feuerholzes, Monsieur Chastel.«
»Nein!«
»Ihr müsst … und Ihr werdet es tun. Glaubt mir, Monsieur, wenn meine Männer eingreifen, wird es für alle Beteiligten unangenehmer. Also?« Er reckte die ausgestreckte Hand. »Seid so freundlich.«
Widerwillig gab ihm Jean zuerst das Reisigbündel, danach seine Pistole, dann den Silberdolch. Lentolo beging den Fehler, bei Gregoria keine Durchsuchung anordnen zu lassen. Sie schwieg und behielt die Pistole bei sich.
Nachdem Jean gezeigt hatte, dass er keine Waffen mehr am Leib trug, öffnete Lentolo die Tür hinter sich. Helles Licht fiel ihnen entgegen und beleuchtete den halbdunklen Raum, in dem sie sich befanden.
Dieses Mal machte Gregoria den Anfang und kam in ein hohes Zimmer mit einem gewaltigen Kronleuchter an der Decke. Die Möbel waren alle mit weißen Tüchern verhängt worden, auch die Büsten und Bilder lagen unter weißem Leinen, was dem Raum etwas Geisterhaftes, Jenseitiges verlieh.
Am unverhüllten Tisch vor einem Kamin saß ein Mann in einer dunkelroten Kardinalsrobe. Sein Gesicht wurde von einer weißen Engelsmaske verdeckt. Alles, was sie von seinem Antlitz sahen, waren die smaragdgrünen Augen, die zu leuchten schienen – fast so, als würden sie von innen erhellt.
Die Hände des Mannes steckten in dünnen weißen Handschuhen, um seinen Hals lag ein schwarzer Rosenkranz mit einem gewaltigen silbernen Kreuz, das etwa auf Höhe der Brustmitte mit einer Schlaufe an einem der Knöpfe befestigt war.
»Ehrwürdige Äbtissin, Monsieur Chastel: Willkommen! Ich entschuldige mich für die Geheimnistuerei, doch ich habe aus der Vergangenheit gelernt, dass es nicht gut ist, seine Identität preiszugeben, wenn man im Begriff ist, sich mit mächtigen Gegnern anzulegen.« Er sprach Französisch mit einem seltsamen Akzent, den Jean aber nach seinen Erfahrungen mit den vielen ausländischen Jägern im Gevaudan zuordnen konnte. So ungewöhnlich es war: Bei dem Mann handelte es sich mit Sicherheit um einen Engländer.
»Nennt mich Impegno.« Er nickte ihnen zu. »Ich freue mich sehr, dass Ihr, Äbtissin, Euch entschieden habt, gemeinsam mit mir gegen die Jesuiten vorzugehen und ihre Machenschaften zu beenden. Dabei rede ich von einem endgültigen Beenden.« Er lehnte sich nach vorn. »Mein Ziel ist es, die Jesuiten samt ihrer Zelanti und Ansichten aus dem Vatikan zu jagen. Unsere Verschwörung muss eine Größe erreichen, wie es sie bislang noch nicht gegeben hat.«
»Versündigt Ihr Euch nicht an Eurer Kirche, wenn Ihr so etwas plant?«, warf Jean spöttisch ein.
»Monsieur Chastel, ich bin entzückt zu sehen, dass die Geschichten über den tapferen Mann aus Frankreich stimmen, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Auch nicht vor seinem eigenen König, wie man sich erzählt.«
Impegno schien seine Aufmerksamkeit wieder Gregoria zuzuwenden. Er hielt die Hand mit dem Kardinalsring in ihre Richtung, woraufhin sie ohne zu zögern auf ihn zuging, vor ihm niederkniete und den Schmuck küsste. Jean verstand sehr wohl, was diese Zurschaustellung der Macht des unbekannten Kardinals zeigen sollte: dass er mit einer Bewegung seines
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