Sanctum
folgte er Sarai. Bei diesem Teil der Ausbildung kam die von ihm verlangte Intuition ins Spiel. Bei der Verfolgung gab es für die Frauen keinen Vorteil, weil sie sich zu wehren wussten, sondern es ging darum, mit der Umgebung zu verschmelzen und so unauffällig wie möglich zu sein, damit das Wild den Jäger nicht witterte.
Das Wild, dem sie nachstellten, galt als äußerst scheu. Jean hatte die Seraphim zunächst an sich selbst das Beschatten üben lassen, aber seit zwei Tagen machten sie Jagd auf andere: Taschendiebe.
Es war zum einen eine Herausforderung, die flinken Räuber überhaupt in dem Treiben zu bemerken, zum anderen verlangte Jean von den Frauen, ihnen nach der Tat zu folgen und sie mit einem Kreidestrich auf dem Rücken zu kennzeichnen. Jede von ihnen besaß eine andere Farbe, damit es nicht zu Verwechslungen kam. Natürlich verfügten Diebe nicht über die überlegenen Instinkte und Fähigkeiten der Wandelwesen – aber ein besseres Training konnte sich Jean hier in der Stadt kaum vorstellen.
Gleichzeitig lernten die Seraphim, mit Kreide schnell und unauffällig kleine Markierungen an den Hauswänden zu hinterlassen. Obwohl jeder normale Passant sie übersah, konnten Jean und die anderen Mädchen so einer jeden Spur durch die ganze Stadt folgen. Jean lehrte sie die gleichen Markierungen, die er mit seinen Söhnen auf der Jagd benutzt hatte. Es spielte keine Rolle, ob man Ästchen in einem besonderen Muster auf den Boden legte und Symbole in Baumrinden schnitzte oder ob man mit Kreide Zeichen an Wänden und auf den Boden malte. Die Gassen, Straßen, Häuser und Hinterhöfe, die Auslagen und alle anderen Hindernisse ersetzen die Bäume, Hügel und Sträucher.
In einer Stadt war jedoch alles begrenzter, nicht so weitläufig wie in der Wildnis, und es gab andere Dinge, auf die man zu achten hatte. Das reichte von rücksichtslos fahrenden Wagen oder stürmischen Reitern über das verwirrende Spektakel auf einem Markt, in dem eine Person sehr schnell verschwinden konnte, bis hin zu Taschendieben und Bettlern, vor denen man sich hüten musste. Inzwischen kannte Jean sich in dem Viertel hervorragend aus und erkundete täglich mehr von Rom.
Auf Sarai war Jean besonders stolz. Er beobachtete sie gerne, weil sie – noch schneller als die anderen Seraphim – begriff, auf was es bei der Jagd ankam. Die junge Frau betrat gerade eine Piazza, auf der sich ein Markt ausbreitete und Händler alle möglichen Gemüsesorten anboten, Kelleräpfel zum Einlagern, Brot und viele andere Dinge, über deren Nützlichkeit man sich streiten konnte, wie Elixiere gegen Warzen oder Seifen, die gegen Falten wirken sollten.
Jean folgte Sarai mit einigem Abstand und lauschte auf die Gespräche um sich herum, um sein Italienisch zu verbessern. Lentolo hatte ihm einen Lehrer gesandt, der ihm die fremde Sprache regelrecht um die Ohren schlug und eintrichterte, und wenn der Quälgeist einmal nicht zur Stelle war, dann übernahm eine Seraph diese Aufgabe. Gregoria erging es nicht viel besser.
Die Umstehenden unterhielten sich über das Wetter, die Preise, allerlei Klatsch. Das war, was er verstand … und nicht begreifen konnte. Niemand schien über die besonders brutalen Morde zu sprechen, die sich hier vor kurzem ereignet hatten und, da war er sicher, immer noch mehrten.
Er erinnerte sich an Abbé Acot, von dessen Ermordung ihm Gregoria berichtet hatte. Nüchtern betrachtet kam der Marquis am ehesten für den Auftrag in Frage – nach dem zu schließen, was sie ihm über die Unterhaltung mit Acot berichtet hatte –, aber Jean glaubte es nicht. Der Marquis hatte in seiner Verzweiflung über die Taten seines Sohnes einen ehrlichen Eindruck auf ihn gemacht. Blieben noch die Männer des Legatus, auch wenn ihm kein Grund einfallen wollte.
Sarai war stehen geblieben und deutete fast unmerklich nach links. Jean sah einen recht jungen Taschendieb, einen Beutelschneider, der sich eben von hinten an den Rockschößen vorbei am Gürtel eines Edelmanns zu schaffen machte. Er führte die schmale, sehr scharfe Klinge schnell und kappte die Lederriemen, mit denen der Beutel befestigt war, fing das Behältnis mit der anderen Hand auf und wandte sich rasch ab, um hinter einem Kistenstapel zu verschwinden.
Sarai folgte ihm sofort, hielt das Stück Kreide zur Markierung des Taschendiebs bereit. Jean lächelte ihr zu und winkte ihr, danach machte er sich auf den Rückweg, um sich vom Haus aus einer anderen Seraph an die Fersen zu heften. Er wählte
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