Sanctum
gegenseitig umgebracht. Aber das wäre zu schön, um wahr zu sein.«
Judith sah ihn an. »Ihr macht Euch Sorgen um uns, Monsieur. Das haben wir schon bemerkt, als Ihr von dem Panter spracht.«
Jean fühlte sich ertappt. In den letzten Wochen hatte er die Frauen besser kennen gelernt, wusste sie einzuschätzen und fühlte sich durch den Altersunterschied mehr als ihr Vater denn ihr Ausbilder und Befehlshaber. »Ist das schlecht?«
»Nein … auch wenn Ihr damit in Frage stellt, dass wir uns gegen die Wesen verteidigen können.« Judith lächelte. »Habt mehr Vertrauen in uns, Monsieur Chastel. Wir wurden zum Kämpfen ausgebildet, und Ihr habt uns mehr als einmal vor Augen gehalten, wie gefährlich unsere Gegner sind. Dass sie anders handeln als Menschen, gegen die wir ansonsten angetreten sind.« Sie nahm ein Bändchen mit einem Anhänger und reichte es ihm.
Er erschrak und stieß die Luft aus. An dem geflochtenen Band hing ein kleiner hölzerner Vogel, wie er ihn selbst einmal geschnitzt hatte. Für die kleine Marie Denty, die ein Opfer der Bestie geworden war.
Die Vergangenheit, die nicht lange zurücklag, holte ihn ein und presste sein Herz zusammen. Die Schwalbe hatte ihr den Tod gebracht, er sah es als ein böses Omen an.
»Nein, das will ich nicht«, stammelte er.
Judith sah ihn erstaunt an, legte das Bändchen zurück und hielt ihm ein anderes mit einem Kreuz entgegen. »Dann vielleicht dieses?«
»Nein, ich habe es mir anders überlegt.« Er nahm sich einen Baum, das Symbol des Lebens, und warf ein paar Münzen in den Bauchladen. »Das hätte ich gern.« Die Beklemmung wich nicht. Etwas schien plötzlich in der Luft zu liegen, etwas, was er nicht in Worte fassen konnte. Jean fürchtete aus einem unbestimmten Grund um das Leben seiner Seraphim.
Er wandte sich von Judith ab und ging auf die nächste Hausecke zu. Eine Treppe führte ihn auf einen Außengang in den zweiten Stock. Von dort überblickte er die gesamte Straße, den kleinen Platz mit der Säule, auf der sich die verwitterten Reste eines antiken Denkmals befanden, und er sah in die Wohnung des Mannes.
Bernini hatte die Fenster geöffnet, um die letzte Sommerhitze aus den Räumen entweichen zu lassen, saß im offenen Hemd an seinem Tisch und las in einem Buch. Gelegentlich machte er sich Notizen auf einem Blatt oder trank von seinem Wasser, das neben ihm stand. Er war Anfang dreißig, hatte halblange dunkelbraune Haare und ein Oberlippenbärtchen, das ihn geckenhaft wirken ließ. Er sah nach einem Studiosus aus, und so jemand passte gar nicht zu der Gesellschaft des Comtes.
Was aber, wenn der Comte den Mann ebenfalls zu einer Bestie gemacht hat, um sich Verbündete im Kampf gegen den Feind zu schaffen?
Jean hatte die ganze Zeit darüber nachgedacht, weswegen der Comte die Hure Passione gebissen hatte. An einen Zufall im Eifer der Lust glaubte er von Anfang an nicht. Vor dem Bericht über den schwarzen Panter hatte Jean gedacht, das Mädchen sei als ein Ablenkungsmanöver für ihn gedacht gewesen; inzwischen ergab es mehr Sinn anzunehmen, dass der Comte sie gegen den Panter hetzen wollte. War er womöglich dabei, sich eine eigene kleine Streitmacht zu schaffen?
Der Mann gegenüber erhob sich, ging am Fenster vorbei und verschwand für einige Zeit aus Jeans Sicht, dann kehrte er zurück und hielt eine Pistole in der Hand. Er lud sie gewissenhaft, ließ eine glänzende Kugel in den Lauf gleiten und stopfte die Waffe.
War es poliertes Blei … oder eine Silberkugel? Jean biss erneut in den Apfel und senkte den Blick, als Bernini plötzlich aus dem Fenster zu ihm auf die Balustrade schaute.
Der Mann rief ihm auf Italienisch etwas zu. »Senta Lei, perché se ne sta li a bighellonare? Vada al diavolo!«
Jean verwünschte sich selbst. Da bläute er den Seraphim ein, nicht aufzufallen, und nun hatte ausgerechnet er, der Lehrmeister, die Aufmerksamkeit erregt! Er tat so, als wüsste er nicht, dass er gemeint war, und biss in den zweiten Apfel.
Die Rufe wurden lauter, bis Jean nicht mehr anders konnte, als den Kopf zu heben.
Bernini stand so weit im Raum, dass ihn niemand von der Straße aus sehen konnte, hatte den Arm mit der Pistole ausgestreckt und hielt sie auf ihn gerichtet. Mit der anderen deutete er auf die Treppe. Es war unmissverständlich: Jean sollte auf der Stelle von seinem Aussichtspunkt verschwinden.
Er tat völlig überrascht und verängstigt, duckte sich und wedelte beschwichtigend mit den Armen, bevor er sich Schritt für
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