Sanctus
einem Polizeirevier waren, wo man noch rauchen durfte, doch nun, da sie sich im Spiegel sah, war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Vielleicht hatten sie sie ja nur weggesperrt, weil sie wie eine Irre aussah. Und Liv war sich tatsächlich auch ein wenig verrückt vorgekommen, als sie ihre Aussage gemacht und beschrieben hatte, was von ihrer Landung bis zu dem Zeitpunkt geschehen war, als sie nach der gescheiterten Entführung auf die Polizisten zugewankt war.
Sie hatte das Gefühl, als wäre das nicht ihr, sondern jemand anderem passiert. Und dieses Gefühl war noch verstärkt worden, als der Beamte, der ihre Aussage aufgenommen hatte, rausgegangen war, um ihr noch eine Zigarette zu holen. Bei seiner Rückkehr hatte sich sein Verhalten ihr gegenüber subtil verändert. Sein stilles Mitgefühl war kühler Distanz gewichen. Nahezu schweigend hatte er das Verhörritual beendet, Liv dann das Protokoll zur Durchsicht vorgelegt und sie das Dokument unterschreiben lassen. Anschließend war er wortlos verschwunden. Wohin, das wusste Liv nicht.
Die Tür besaß innen keine Klinke. Die Umstände und dieser Raum vermittelten Liv das Gefühl, sie sei verhaftet worden.
Liv griff nach der Zigarette, die langsam im Aschenbecher vor sich hin brannte, und sog den Rauch ein. Sie schmeckte fremd und unangenehm, aber sie erfüllte ihren Zweck. Livs Luckys waren noch immer in ihrer Reisetasche, und die lag in Gabriels Fond zusammen mit ihrem Pass, ihren Kreditkarten und allem anderen mit Ausnahme ihres Handys. Arkadian war offenbar auf dem Weg. Hoffentlich war er mitfühlender als seine Kollegen. Liv dachte an ihre Reise hierher: wie sie über gewundene Straßen zwischen den Bergen hindurchgefahren waren und dann über die hell erleuchteten Straßen einer Stadt, die schier unglaublich alt und modern zugleich wirkte. Sie erinnerte sich an die Aussicht, die sich ihren müden Augen aus dem Fenster des Streifenwagens geboten hatte: Da war das vertraute Logo von Starbucks und die ultramodernen Glasfassaden von Geldinstituten unmittelbar neben offenen Läden, die sich seit biblischen Zeiten nicht verändert zu haben schienen.
Liv nahm noch einen Zug von der ekeligen Zigarette, rümpfte die Nase und drückte die Kippe in dem Aschenbecher aus, dessen Boden ein Bild der Zitadelle zierte. Sie schob den Aschenbecher beiseite und legte den Kopf auf die Arme. Das Summen der Klimaanlage war das einzige Geräusch im Raum. Liv schloss die Augen, und trotz allem, was sie gerade durchgemacht hatte, schlief sie binnen Sekunden ein.
K APITEL 51
Die Kleintierklinik lag an der Ecke von Gnade und Absolution, mitten im Herzen des Verlorenen Viertels. Dass ein Tierarzt in einer derart heruntergekommenen Gegend seine Praxis aufmachte, war schon seltsam genug, aber dass auch jetzt noch ein Licht hinter der milchigen Glasfassade brannte, war sogar noch merkwürdiger.
In den Kreisen, in denen Kutlar verkehrte, wurde die Praxis nur als ›Bitch-Klinik‹ bezeichnet – eine eindeutige Anspielung auf die Geschäfte, die in diesem Teil der Stadt für gewöhnlich erst nach Einbruch der Nacht getätigt wurden. Für die meisten Behandlungen, die hier gemacht wurden, stellte niemand eine Rechnung aus. Stattdessen bezahlte man in bar, und die Patienten waren ausschließlich Frauen. Es gab keinen einzigen Zuhälter in der Stadt, der die Dienste der Klinik nicht schon mindestens einmal in Anspruch genommen hätte. Hier wurde alles gemacht, von illegalen Abtreibungen bis hin zu Sterilisationen. Letztere wurden gerne gemacht, weil Verhütungsmittel auf Dauer zu teuer waren. Dabei wussten die meisten Mädchen gar nicht, was genau mit ihnen gemacht wurde. Sie bemerkten es meist erst Jahre später.
Und die Klinik bot auch noch einen anderen, sehr speziellen Service an, einen, der ungleich teurer war, denn hier drohten noch weit höhere Gefängnisstrafen.
Kutlar hatte die Dienste dieses Ortes noch nie in Anspruch genommen. Er besaß keine Haustiere, und trotz seines Berufs hatte er bis jetzt das Glück gehabt, nicht auf derartige Dienstleistungen zurückgreifen zu müssen. Doch das hatte sich auf der verregneten Flughafenstraße dramatisch geändert, als eine 9-mm-Kugel die Tür des Vans durchschlagen hatte, auseinandergebrochen und in zwei Teilen in sein rechtes Bein eingedrungen war. Ein Teil der Kugel lag nun in einer rostfreien Stahlschale. Kutlar schaute es sich an. Ihm drehte sich der Magen um, und er wandte sich wieder ab. Dann sah er sein Spiegelbild in der Tür
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