Sand & Blut
natürlich nicht. Er hat mich an Deck gelockt, damit es schneller geht. Und ohne Konnys Angriff hätte er es längst getan. Auf irgendeine Weise.
Vincent griff sanft nach der halb vollen Tasse und nahm sie ihr aus der Hand. Meike spürte ein Schwindelgefühl. War das Angst oder die einsetzende Wirkung der Morphintropfen, die sie mit ihrem Kaffee eingenommen hatte?
... wir haben dir vertraut.
Da siehst du mal, wie dumm ihr seid. Wem kann man heute noch vertrauen?
Vincent sah ihr in die Augen und hob die Tasse, als wollte er ihr zuprosten.
Dann führte er sie zum Mund und trank sie aus. Meike starrte ihn an. Wollte er sich selbst auch noch töten? Kurz kam ein Bild in ihr hoch, von einem Geisterschiff, das frei auf dem Meer trieb. An Bord lagen zwei junge Menschen, beide tot. Wenn sie jemand fand, würden sie vielleicht sogar annehmen, dass sie ein unglückliches Liebespaar gewesen waren, das aus Verzweiflung dem Leben entflohen war.
»Du irrst dich. Es war wirklich nur Kaffee. Aber du hast es mir zugetraut. Konnte man in deinem Gesicht sehen«, sagte Vincent, als er die Tasse absetzte. »Du musst lernen, richtig zu beobachten und dann auch mal auf eine Erkenntnis zu vertrauen. Aus dir kann noch eine gute Psychotante werden, wenn du dranbleibst.«
»Ich will keine Psychotante mehr werden«, sagte Meike tonlos.
»Das musst du ja nicht heute entscheiden.« Vincent stand auf und stellte ihre Tasse vorsichtig auf den Tresen. Seine blauen Augen blitzten kurz in ihre Richtung.
Wieder schaffte er es, dass sie ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber hatte, wegen ihres Verdachtes. Aber diesmal ärgerte sie sich nicht darüber.
»Das Messer ist im Bad und hier sind Blutspuren überall. Du musst das gründlich wegmachen«, sagte Meike um ihre Verlegenheit zu überspielen.
»Weiß ich. Ich hab alle Dexter-Staffeln gesehen.«
»Ich auch.« Aber ab heute würde sie Dexter nicht mehr ansehen können. Obwohl auch er in der unechten Welt agierte.
Das Schlauchboot schaukelte etwas, als Meike hineinstieg. Vincent wollte ihr helfen, aber sie lehnte ab. Schließlich hatte er eine verletzte Schulter. Er stand auf der Treppe über ihr und es gab keine angemessenen Abschiedsworte. Nicht mal einen angemessenen Abschied überhaupt. Die beiden Welten berührten sich und Meike war im Begriff, dort hinüberzuwechseln. Vincent musste auf der anderen Seite bleiben und Meike beneidete ihn fast darum.
Vincent hob kurz die Hand, wie zum Gruß und Meike stieß sich von der Yacht ab. Sie griff zum Paddel. Sie glaubte, dass seine blauen Augen ihr folgten, als sie sich durch die leicht unruhigen Wellen kämpfte. Sie überlegte, ob sie sich noch einmal kurz umdrehen sollte, und entschied sich erst dagegen. Aber dann tat sie es doch. Er stand immer noch an der Treppe und sah ihr nach. Und sie hob die Hand zum Gruß. Wahrscheinlich die einzige vertretbare Geste zwischen den Welten überhaupt.
Sie glaubten ihr. Es war so leicht, dass es Meike schon unheimlich vorkam. Vier junge Leute fuhren mit dem Schauboot zu weit hinaus, wurden abgetrieben, drei ertranken, eine schaffte es nach Hause. Sie glaubten es einfach so. Natürlich gab es eine groß angelegte Suchaktion, die erfolglos endete, Tränen und Abschiedsfeiern mit Bildern der Verstobenen. Meike nahm natürlich daran teil, sprach aber den ganzen Abend kein einziges Wort. Und sie fragten sie nicht. Ihre Eltern akzeptierten Meikes Entscheidung, ein Semester Pause einzulegen. Jeder verstand sie. Angeblich. In Wirklichkeit verstanden sie natürlich gar nichts.
Monate vergingen und Meike kam langsam wieder im echten Leben an. Ihre Eltern wollten sie in eine Therapie schicken, aber sie lehnte ab. Sie brauchte keine Therapie. Das war alles ein ganz großer, fehlgesteuerter Schwachsinn. Alles, was sie brauchte, war jemand, mit dem sie ehrlich reden konnte. Und auf der ganzen Welt gab es nur einen Menschen, der dafür geeignet war. Es kam nicht selten vor, dass sie an ihn dachte. Anfangs häufig, dann folgte eine Zeit des Verdrängens, in der sie sich auf andere Dinge konzentrierte. Aber ihre Gedanken kehrten stets wieder zu ihm zurück. Dieses Gefühl, dass es etwas Unvollendetes gab, um das sie sich kümmern musste, hatte sich hartnäckig in ihr eingenistet. Manchmal, in einsamen Momenten, erlaubte sie sich, länger darüber nachzudenken. Und in ihren stillen, geheimen Gedanken, versuchte sie immer wieder, so ehrlich wie möglich zu sich selbst zu sein. Sie war Vincent um eine
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